Ein Jahr nach dem Attentat in Halle

Kerzen und Blumen auf dem Marktplatz in Halle nach Synagogen Anschlag in Halle.
©epd-bild/Steffen Schellhorn
Kerzen und Blumen sammelten sich an auf dem Marktplatz in Halle nach dem rassistischen Anschlag vom 9.10.2019.
Ein Jahr nach dem Attentat in Halle
Am 9. Oktober jährt sich einer der schlimmsten antisemitischen Anschläge der deutschen Nachkriegsgeschichte. Der Attentäter, ein 28-jähriger Sachsen-Anhalter, der zwei Menschen erschoss, muss sich seit Ende Juli vor Gericht verantworten.

9. Oktober 2019: In der Synagoge in Halle begehen mehr als 50 Menschen gemeinsam den höchsten jüdischen Feiertag: Jom Kippur. "Es ist der heiligste Tag im Jahr, mein liebster Feiertag", sagen Teilnehmer. Eine Gruppe von 20 Juden ist am Vortag extra aus Berlin angereist, unter ihnen mehrere US-Amerikaner. Sie wollen ein friedliches Jom Kippur feiern, nicht in der Großstadt, sondern bewusst in einer kleineren Gemeinde außerhalb. Der Gottesdienst dauert den ganzen Tag, bis zum Abend wird gebetet und gefastet. Doch bevor es Abend wird, zerstören Schüsse und Explosionsgeräusche mitten in der Lesung der Thora die Atmosphäre.

Die Menschen in der Synagoge sehen über den Bildschirm einer Überwachungskamera zunächst nur einen Ausschnitt dessen, was sich auf der Straße vor dem Gelände abspielt. Es reicht, um zu erkennen, dass sie in Lebensgefahr sind. Der Rechtsterrorist Stephan B. attackiert die verschlossene Holztür zum Gelände, versucht in Kampfmontur, mit Sprengsätzen und Schusswaffen in die Synagoge zu gelangen, um dort möglichst viele Juden zu töten. Die Tür hält stand und wird zum Symbol für das "Wunder und die Wunde von Halle", wie es später oft heißt.

Die neue Holztür zum Gelände der Synagoge.

Der Attentäter erschießt zwei Menschen, verletzt zwei weitere Menschen mit Schüssen schwer, traumatisiert Gläubige, Angehörige der Opfer, Polizisten und Passanten. Seit dem 21. Juli muss er sich wegen Mordes in zwei Fällen und versuchten Mordes in mehreren Fällen vor Gericht verantworten.

Die Hauptverhandlung des Oberlandesgerichts Naumburg findet aus Sicherheits- und Platzgründen im Magdeburger Landgericht statt. 45 Nebenkläger gibt es. In den bisherigen 15 Prozesstagen wurden bereits mehr als 50 Zeugen befragt, darunter Überlebende aus der Synagoge, Polizisten, Opfer, Angehörige und Menschen aus dem persönlichen Umfeld des Attentäters. Aus seiner antisemitischen Gesinnung machte der Angeklagte von Anfang an keinen Hehl. Seine schwer erträglichen Ausführungen zu Beginn des Prozesses führten auch zu einer Diskussion, inwieweit dem Täter damit eine Bühne geboten wird.

Rund neun Monate nach dem antisemitischen Anschlag mit zwei Toten in Halle muss sich der Attentäter Stephan B. vor Gericht verantworten.

Reue, Einsicht, Empathie sind bei dem Angeklagten nicht zu erkennen. Er wollte nach eigener Aussage keine Weißen töten, aber in der Synagoge hätte er auch auf Kinder geschossen. Wenn er in der Verhandlung das Wort ergreift, geht es meist um waffentechnische Erklärungen und sein krudes Weltbild. Den Holocaust leugnet er. Einige der jungen Juden, die am Tag des Anschlags in der Synagoge waren, tragen durch familiäre Verbindungen noch am Trauma der Schoah. Das Attentat auf die hallesche Synagoge löste bei ihnen ein weiteres Trauma aus. Die meisten Zeugen leiden bis heute unter den psychischen und physischen Folgen der Tat.

Synagoge mit Friedhof in Halle an der Saale.

Im Prozess wird deutlich, dass B. nicht nur zwei Leben ausgelöscht, sondern auch viele weitere Leben zerstört hat. Der Vater des Mordopfers Kevin S. versuchte, von Weinkrämpfen geschüttelt vor Gericht auszusagen. Der 44-Jährige, dessen 20 Jahre alter Sohn in dem Döner-Imbiss unweit der Synagoge erschossen wurde, sah noch am 9. Oktober 2019 das Tatvideo, das ihm ein Bekannter schickte.

Ismet Tekinist, Inhaber des "Kiez Döner" Imbiss in Halle an der Saale, in dem ein junger Mann erschossen wurde.

Der Angeklagte hatte den Anschlag mit einer Helmkamera gefilmt und live ins Internet gestreamt. Das Video zeigt beide Morde: Nachdem der Attentäter vor der Synagoge auf offener Straße zunächst die 40 Jahre alte Passantin Jana L. erschossen hatte, stürmte er in den Kiez-Döner und tötet den 20-jährigen Malerlehrling, der in seiner Mittagspause nur einen Döner essen wollte.

Am 9. Oktober jährt sich einer der schlimmsten antisemitischen Anschläge der deutschen Nachkriegsgeschichte.

Einige Zeugen zweifeln, dass das Umfeld von B. nichts von dessen Gesinnung und den Anschlagsplänen mitbekommen haben will. Der 28-Jährige lebte noch bei seiner Mutter in einer kleinen Wohnung im Kinderzimmer, bastelte Waffen im Schuppen seines Vaters. Die Familie von B. nutzte allerdings ihr Zeugnisverweigerungsrecht und äußerte sich nicht. Im Internet soll B. sehr aktiv gewesen sein. Die Auswertung von sichergestellten Dateien ergab, dass diese voll mit nationalsozialistischen, antisemitischen, homophoben und frauenfeindlichen Inhalten waren. Zudem soll B. auch Internetforen genutzt haben, in denen anonym derartige Inhalte geteilt werden. Darin soll auch der Attentäter von Christchurch (Neuseeland) glorifiziert worden sein. Ob B. Kontakte im Internet pflegte, blieb allerdings bislang unklar.

Der Prozess läuft noch, das Gericht hat Termine bis zum 18. November festgelegt. B. droht eine lebenslange Freiheitsstrafe mit anschließender Sicherungsverwahrung. Zuvor wird am 9. Oktober zum ersten Jahrestag des Anschlags in Halle der Opfer gedacht. An den Tatorten vor der Synagoge und vor dem Döner-Imbiss werden Gedenktafeln angebracht. Die beschädigte Holztür, die dem Angriff standhielt, ist längst ausgetauscht, sie wird aber künftig als Mahnmal auf dem Gelände der Synagoge an den 9. Oktober 2019 erinnern. Um 12.01 Uhr, als die ersten Schüsse auf die Synagoge fielen, werden die Kirchenglocken der Stadt läuten und das öffentliche Leben wird kurz still stehen.