Fastenmail Woche 17 - Nehmt Verstand an!

Proteste gegen Rassismus
© Ben Gray/Atlanta Journal-Constitution/AP/dpa
Fastenmail Woche 17 - Nehmt Verstand an!
Sieben und mehr Wochen Zuversicht
Manchmal muss die Weisheit Gestalt annehmen und draußen richtig laut werden. Das steht schon in der Bibel.

Ruft nicht die Weisheit, und lässt nicht die Klugheit sich hören? Öffentlich am Wege steht sie und an der Kreuzung der Straßen; an den Toren am Ausgang der Stadt und am Eingang der Pforte ruft sie: O ihr Männer, euch rufe ich und erhebe meine Stimme zu den Menschenkindern! Merkt, ihr Unverständigen, auf Klugheit, und ihr Toren, nehmt Verstand an! Hört, denn ich rede, was edel ist, und meine Lippen sprechen, was recht ist. Denn mein Mund redet die Wahrheit, und meine Lippen hassen, was gottlos ist. Alle Reden meines Mundes sind gerecht, es ist nichts Verkehrtes noch Falsches darin. Sie sind alle recht für die Verständigen und richtig denen, die Erkenntnis gefunden haben. Nehmt meine Zucht an lieber als Silber und achtet Erkenntnis höher als kostbares Gold. Denn Weisheit ist besser als Perlen, und alles, was man wünschen mag, kann ihr nicht gleichen.

Sprüche 8,1−11 (Hier gelesen von Helge Heynold)

Liebe Fastengemeinde,

darf ich Ihnen die Weisheit vorstellen? So sieht sie auf Hebräisch aus: חכמה, und so spricht man sie aus: ḥokhmāh (das h mit Punkt spricht man als kehliges ch). Die Weisheit ist in der Bibel ausgesprochen beliebt. Es gibt im Alten Testament eine ganze Gruppe von einzelnen Büchern, die man "Weisheitsliteratur" nennt. Zu ihnen zählen unter anderem die Psalmen und Hiob und auch das Buch der Sprüche. Die Alttestamentlerin Jutta Hausmann schreibt in ihrem Artikel zum Thema Weisheit: "Weisheit kann auf … intellektuelle Kompetenzen verweisen, ist aber viel umfassender als Intelligenz. Weise ist nicht der Mensch, der im Laufe der Jahre durch viel Lesen und sonstiges Sammeln von Informationen eine Fülle an Wissen angehäuft hat … Es geht bei der Weisheit um eine Erkenntnis, die den Einzelnen wie die Gemeinschaft zu gelingendem Leben befähigt." (Jutta Hausmann, Artikel Weisheit, WiBiLex)

Nach einer Weisheit, die die Einzelnen und die Gemeinschaft zu gelingendem Leben befähigt, sehne ich mich seit einigen Monaten mehr als je zuvor. Solche Weisheit hat mit Verantwortung zu tun. Solche Weisheit lässt verzichten, wenn es nötig ist, und erkennt, wenn alte Wege nicht mehr begehbar sind. Darum habe ich uns für diese Woche einen Text ausgesucht, bei dem die Weisheit sogar persönlich auftritt. Die Weisheit tritt hier nicht nur als eine Person auf, sie benimmt sich dabei auch noch recht marktschreierisch. Auf der Straße und an möglichst belebten Plätzen ruft sie laut: "Hört zu! Nehmt Verstand an! Was ich zu sagen habe, ist wertvoller als Perlen, Silber und Gold!"

Das kann man gut nachvollziehen. Wenn die Weisheit dafür sorgen will, dass das Leben für alle gelingen kann, geht alles eigensinnige Streben nach Glück in die falsche Richtung. Trotzdem ist es etwas befremdlich, sich vorzustellen, dass ausgerechnet die Weisheit sozusagen mit einem Megafon in der Hand auf die Straße geht. In einer Fabel steht die Eule für die Weisheit, und die sitzt meistens unbewegt auf einem Ast, ihr Ruf klingt melodisch, ihr Flug ist geräuschlos. In unserem Bibeltext schreit sie laut auf der Straße, und das ist auch für die Bibel selbst ungewöhnlich. Weisheit wird nach biblischer Vorstellung von den Eltern an die Kinder weitergegeben. Gott hat die Welt in Weisheit erschaffen, darum kann Leben auf ihr gelingen. Wer das erkennt, wird seinen Teil dazu beitragen. Es ist die Aufgabe jeder Generation, das zu lernen, entsprechend zu handeln und die Erkenntnis weiterzugeben. Wenn nun die Weisheit sozusagen selbst Gestalt annimmt und auf die Straßen und Plätze geht, ist das ein Zeichen dafür, dass etwas sehr im Argen liegt. Die Weitergabe der Weisheit in den Familien funktioniert nicht mehr, die Weisheit muss nun höchstpersönlich die Menschen zur Vernunft bringen und demonstrieren gehen.

In den letzten Wochen gab es viele Demonstrationen. Unter den Stimmen, die dort laut wurden, waren einige ausgesprochen unvernünftige. Ängste mischten sich mit Vorurteilen und mutierten zu Vorstellungen von großen Verschwörungen. Doch lassen sich auch Stimmen der Weisheit in biblischem Sinne vernehmen. Der Satz "Black lives matter" (Schwarze Leben zählen) ist so eine Aussage, die tatsächlich "gelingendes Leben" ermöglichen kann. Wer dies beherzigt, wird nicht zum Rassisten. Die Aussage sollte eigentlich vollkommen selbstverständlich sein. Jeder Mensch, der diesen Satz hört, sollte eigentlich denken: "Ja, natürlich!" Aber so ist es eben nicht. Manchmal muss die Weisheit darum Gestalt annehmen und auf die Straße gehen. Sie muss rufen: "Merkt, ihr Unverständigen, auf Klugheit, und ihr Toren, nehmt Verstand an!" Wenn nun jemand fragt, woran man denn erkennen kann, ob etwas, das auf einer Demonstration gerufen wird, weise ist oder nicht, so wiederhole ich gern noch einmal den wunderbaren Satz von Jutta Hausmann: "Es geht bei der Weisheit um eine Erkenntnis, die den Einzelnen wie die Gemeinschaft zu gelingendem Leben befähigt."

Und so lautet meine Wochenaufgabe für Sie: Formulieren Sie einen weisen Satz! Schreiben Sie eine Aussage auf, die schlicht wahr ist und die helfen kann, dass Leben gelingt, wenn man sie beherzigt. Und sobald sich eine Gelegenheit bietet: Sagen Sie ihren weisen Satz laut, so dass andere ihn hören können. Vielleicht schreiben Sie ihn auch auf ein Plakat? Haben Sie keine Angst davor, eine "Binsenweisheit" zu formulieren! Es geht darum, dass Sie Ihren Teil dazu beitragen, dass die Weisheit zu ihrem Recht kommt. Viel Spaß dabei!

Bevor ich mich für diese Woche verabschiede, möchte ich noch etwas Werbung machen. Ich könnte das auch anders formulieren, aber ich bin lieber direkt: Seit letzter Woche ist ein kleines Buch auf dem Markt, das ich zusammen mit Susanne Breit-Keßler, der Kuratoriumsvorsitzenden von "7 Wochen Ohne", herausgegeben habe. Es heißt "Vielleicht lässt jemand Wunder regnen" und enthält viele kleine Texte, die Hoffnung machen möchten. Die Beiträge sind von ganz unterschiedlichen Autoren geschrieben und ansprechend gestaltet worden. Sie können bereits einen Blick in das Buch werfen, und wenn es Ihnen gefällt, können Sie es natürlich kaufen. Wir werden vom Verkauf unseres Büchleins nicht reich werden, aber wir möchten dem Verlag, der auch unseren Fastenkalender herausgibt, in der schwierigen Zeit ein wenig helfen.

Haben Sie es gut!

Ihr Frank Muchlinsky