TV-Tipp: "Der Überläufer"

Altmodischer Fernseher vor einer Wand
Foto: Getty Images/iStockphoto/vicnt
TV-Tipp: "Der Überläufer"
8.4., ARD, 20.15 Uhr
Der Krieg, heißt es als Vorbemerkung zu diesem ARD-Zweiteiler, ist ein grausam-lächerliches Abenteuer, auf das sich Männer einlassen, wenn sie der Hafer des Wahnsinns sticht. Zumindest bei Walter Proska, dem aufrechten Titelhelden des Siegfried-Lenz-Romans "Der Überläufer", kann von Wahnsinn jedoch keine Rede sein.

Er kehrt im Sommer 1945 vom Heimaturlaub auf dem heimischen Bauernhof an die Ostfront zurück, weil er es für seine Pflicht hält; nicht wegen "Führer, Volk und Vaterland", sondern wegen der Kameraden, die er nicht im Stich lassen will. Deshalb verliert er auch nicht sein Leben, sondern nur sein Herz: An Bord des Wehrmachtszuges lernt Walter (Jannis Niewöhner) die blinde Passagierin Wanda (Malgorzata Mikolajczak) kennen; erst später wird ihm klar, dass die Polin, die so erfrischend mit ihm geflirtet hat und von einer Karriere als Sängerin träumt, eine Partisanin ist, die den Zug in die Luft sprengen wollte. Kurz drauf sorgt eine Mine dafür, dass die Zugfahrt in einem masurischen Sumpfgebiet endet.

Walter erhält den Befehl, sich einem Trupp anzuschließen, der sich mitten im Feindesland und umgeben von Partisanen halbwegs gemütlich eingerichtet hat, und nun kommt der Film zu seinem eigentlichen Thema: Der Krieg bringt in den einen das Beste und in den anderen das Schlechteste hervor. Zu den einen gehört selbstverständlich Walter, zu den anderen der Anführer des Trupps: Unteroffizier Stehauf (Rainer Bock) ist einer dieser Typen, die im wahren Leben ein armes Würstchen sind, aber dank der Uniform ihre sadistischen und despotischen Neigungen ausleben können. Zwei Filmstunden später bewahrheitet sich eine andere Gewissheit: Man begegnet sich im Leben immer zweimal; und nun hat sich die Hierarchie umgekehrt.

In der ersten Hälfte des Zweiteilers erzählen Regisseur Florian Gallenberger und sein Koautor Bernd Lange Walters Geschichte episodisch. Die Soldaten schlagen Mücken und die Zeit tot und müssen sich von Stehauf schikanieren lassen; dass Schauspieler wie Bjarne Mädel und Florian Lukas bereit waren, als Nebenfiguren mitzuwirken, belegt die Bedeutung des Projekts. Einzig Walter sind gelegentliche Lichtblicke vergönnt: Inmitten dieses tristen Kriegsalltags findet er sein Glück; am Horizont verläuft die Front, aber Wanda und er lieben sich im Kornfeld. Später, als der Krieg Richtung Westen weitergezogen ist und die Männer im Wald vergessen hat, stellt sich raus, dass Walter eine zwar verständliche, aber unverzeihliche Tat begangen hat, die es Wanda unmöglich macht, ihn weiterhin zu lieben; und trotzdem tut sie es. Deshalb setzt sich Walters Glückssträhne fort: In der Gefangenschaft trifft er im März 1945 zu Beginn von Teil zwei seinen Kameraden Wolfgang (Sebastian Urzendowsky) wieder, der sich der Roten Armee angeschlossen hat und ihm anbietet, für ihn zu bürgen, wenn er mit den Russen gegen den deutschen Faschismus kämpft; für Walter die einzige Möglichkeit, dem sicheren Tod zu entrinnen. Auch Wanda hat dank ihrer bezaubernden Gesangsstimme überlebt, und so trotzen sie dem Krieg erneut ihre Romanze ab.

Natürlich ist "Der Überläufer" ein Kriegsfilm, schließlich tragen sich weite Teile der Handlung in den Jahren 1944 und 1945 zu. Trotzdem ist Gallenberger das Kunststück gelungen, den Krieg immer wieder in den Hintergrund zu drängen; der Film erzählt vom Überleben und von der Liebe. Der Roman ist bereits 1951 entstanden, jedoch erst 2016 erschienen. Lenz war seiner Zeit weit voraus; in der Bundesrepublik galt ein Mann wie Walter damals noch als "Vaterlandsverräter". Während Wanda im Buch irgendwann verloren geht, haben die Autoren die Geschichte keck um einen Epilog ergänzt und ansonsten kühn gekürzt. Wie der Roman ist der Zweiteiler die Charakterstudie eines jungen Mannes, der immer wieder vor existenziellen Entscheidungen steht, aber über einen klaren moralischen Kompass verfügt; und trotzdem große Schuld auf sich lädt. Er ist zwar überzeugt, das Richtige zu tun, als er gemeinsam mit Wolfgang dabei helfen will, ein neues Deutschland aufzubauen, aber im Unterschied zum Freund erkennt er bald, dass sich nichts geändert hat: Die Methoden der Machthaber sind die gleichen geblieben.

Gallenbergers bislang wichtigste Arbeit war "John Rabe", im Kino kaum gesehen und 2011 als Zweiteiler im ZDF ausgestrahlt. Auch dieser Film war eine Hommage: Titelfigur Rabe hat 1937 als Leiter der Siemens-Niederlassung in China erheblich zur Rettung von 200.000 Menschen beigetragen. Später hat der Regisseur unter anderem den Kinofilm "Colonia Dignidad" (2016) und anschließend ebenfalls fürs Kino die viel kleinere, aber sehr sympathische Tragikomödie "Grüner wird’s nicht, sagte der Gärtner und flog davon" gedreht. "Der Überläufer" ist ein großer Fernsehfilm, der nur einen Nachteil hat: Er ist zu kurz. Als Ganzes betrachtet verbringt der Film zu viel Zeit im Wald und zu wenig in Ostberlin. Die Waldszenen sind jedoch keineswegs zu lang; die bis hin zum Dreck unter den Fingernägeln sehr authentisch wirkende und vom Polnischen Filminstitut mit einer Million Euro geförderte Adaption hätte ohne Weiteres Stoff genug für einen Dreiteiler hergegeben.

Der herausragenden Qualität des Films tut das keinen Abbruch, zumal die darstellerischen Leistungen ohne Fehl und Tadel sind; selbst wenn Rainer Bock Rollen wie den Schinder Stehauf schon oft gespielt hat. Jannis Niewöhner, die perfekte Besetzung für den jugendlichen Helden, ist spätestens seit der Amazon-Serie "Beat" endgültig der Star, der er dank der Edelstein-Kinotrilogie ("Rubinrot", "Saphirblau“, "Smaragdgrün") sowie des spätmittelalterlichen ZDF-Dreiteilers "Maximilian – Das Spiel von Macht und Liebe" zu werden versprach. Die Polin Malgorzata Mikolajczak wiederum ist eine echte Entdeckung für den deutschen (Fernseh-)Film. In weiteren kleinen Rollen wirken Ulrich Tukur und Katharina Schüttler mit. Den zweiten Teil zeigt die ARD am Freitag.