Predigt: "Geht hin und seht nach!"

Ansgar Koreng
Predigt: "Geht hin und seht nach!"
Predigt von Jerzy Samiec, Leitender Bischof der Evangelisch-Augsburgischen Kirche in Polen
Ökumenischer Kirchentags-Gottesdienst mit Erzbischof Heiner Koch, Bischof Christian Stäblein (Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg) und Archimandrit Emmanuel Sfiatkos (Griechisch-Orthodoxe Metropolie) aus der katholischen Herz Jesu Kirche in Berlin. Der Kirchentagssonntag ist eine Tradition des Deutschen Evangelischen Kirchentages. Im Zugehen auf den Ökumenischen Kirchentag, soll aus dieser evangelischen Tradition eine ökumenische werden.

Liebe Schwestern und Brüder in Christus!

Die beiden Befehle „Geht hin und seht nach!“ erteilt Jesus seinen Jüngern. Was bedeuten sie? Hier sind natürlich etliche Antworten denkbar, denn sie können sich auf jederart Aktivität beziehen. Ich möchte mich nicht auf die eigentlichen Konzepte des „Hingehens“ und „Nachsehens“ konzentrieren. Mich interessiert immer der Kontext einer bestimmten Aussage. In diesem Fall ist er äußerst reich.

Der Kontext ist die Speisung der Fünftausend mit fünf Broten und zwei Fischen. Wir wissen nicht, um welche Art Fisch es ging, man kann jedoch kaum davon ausgehen, dass es sich um eine außergewöhnlich große Sorte handelte. Beispielsweise zwei Meter lange Störe. In dieser Erzählung geht es um die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse. Schon ihr Anfang ist überraschend. Jesus lehrte und heilte, doch es waren seine Jünger, die ihn auf die materiellen Bedürfnisse der Menge aufmerksam machten mit den Worten: „Die Stätte ist einsam, und der Tag ist fast vergangen; lass sie gehen, damit sie in die Höfe und Dörfer ringsum gehen und sich etwas zu essen kaufen.“

Sollte dem Erlöser etwa entgangen sein, dass die Menschen um ihn hungrig sind? Sollte der Erlöser menschliche Bedürfnisse vernachlässigt haben? Oder ist vielleicht gar keine göttliche Intervention nötig, um die Bedürfnisse und Bedrohungen zu erkennen, denen wir begegnen oder von uns selbst geschaffen werden?

Nun, im dritten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts stehen uns die Bedrohungen und Bedürfnisse der Menschen deutlich vor Augen. Lassen Sie mich nur einige davon streiflichtartig darstellen: Ökologische Bedrohungen. Wir stellen fest, dass das Klima sich erwärmt. Uns ist klar, dass es in den kommenden Jahrzehnten Orte auf dieser Erde geben wird, die für das Leben ungeeignet sind. Wir wissen, dass durch den Meeresspiegelanstieg viele bewohnte Länder überflutet sein werden.  Diese Bedrohung betrifft auch die reichen Länder Europas. Wir werden Zeuge menschlicher Massenmigrationen sein, die sich nicht durch Mauern, Zäune oder Maschinengewehre aufhalten lassen werden.

Heute sind wir Zeugen des Hungers. Unter Hunger leiden 963 Millionen Menschen und 18.000 Kinder sterben täglich daran, das sind fast 6,5 Millionen in einem Jahr. Unterdessen könnte man zum Preis einer Rakete einer ganzen Schule voller hungriger Kinder fünf Jahre lang kostenlose Mahlzeiten aushändigen.  Drei Milliarden Menschen auf der Welt müssen mit 2 Dollar pro Tag irgendwie ihr Leben bestreiten. Die drei reichsten Menschen verfügen über ein größeres Vermögen als alle am geringsten entwickelten Länder zusammen. Um die Bedürfnisse derjenigen zu befriedigen, die unter mangelnder Nahrung und Hygiene leiden, würde der Betrag ausreichen, den die Menschen in den USA und der Europäischen Union jedes Jahr für Parfum ausgeben.

Wir sind Zeugen von moderner Sklaverei. Es gibt heute etwa 40 Millionen Sklaven auf der Welt. Die meisten davon sind Frauen und Kinder. Warum berührt uns all das nicht? Weil dies häufig weit von uns weg ist und weil wir noch häufiger denken, dass es uns nichts anginge. Das ist doch nicht unser Problem. Wieder entstehen vom Beginn des vergangenen Jahrhunderts bekannte Bewegungen, die Slogans voller Fremdenfeindlichkeit und Ausgrenzung verkünden. Auf der Welt herrschen Diktatoren, die ihre eigenen Bürger ermorden.

Schließlich beobachten wir, wie sich der zeitgenössische Mensch von der Kirche entfernt und gleichzeitig nach dem Sinn seines Lebens sucht. Die Statistiken über jährliche Kirchenaustritte und die Zahl der Menschen, die ihren Unglauben an Gott bekunden, zeugen von der Säkularisierung der Gesellschaft. Oder vielleicht steht dahinter gar nicht ein Mangel an Glauben, sondern die Ablehnung einer Institution, die verkündet, Gottes Wort zu übermitteln? Eine Institution, die behauptet, die gute Nachricht vom erlösenden Gott zu predigen, und deren Diener gleichzeitig so leben, als würden sie selbst nicht daran glauben? Vielleicht kommt in unserem Leben die Kraft Christi nicht zum Ausdruck?

Die Diagnose der Pro bleme der modernen Gesellschaft fällt außerordentlich leicht. Dazu benötigen wir kein besonderes Prophetenwort. Die Jünger kommen zu Jesus und sehen die Not der Gemeinde und schlagen eine Lösung vor: „Lass sie gehen!“ Sollen sie sich nur um ihre Probleme selbst kümmern. Jeder wird irgendwie zurechtkommen und wir werden keine Probleme haben! Ein großartiger, erprobter Ansatz. Einer Analyse könnte dieser Ansatz problemlos standhalten: Der Mensch hat die Verantwortung für sein Leben zu übernehmen. Die Erwartungshaltung, dass andere unsere Angelegenheiten für uns erledigen oder unsere Bedürfnisse erfüllen, ist nicht gut. Wir haben unabhängig zu sein.

Unser Herr Jesus überrascht seine Jünger. Es überrascht auch uns. „Gebt ihr ihnen zu essen!“ Moment mal, wie soll das gehen? Wir sind wenige. Unsere finanziellen Mittel sind beschränkt. Es gibt hier nicht genug Nahrung, die für alle reichen würde. Was da ist, reicht gerade für unseren engen Kreis. An dieser Stelle hören wir die Worte: Geht hin und seht nach! Gib, so viel du hast. Er wird deine Gabe vermehren. Die Worte „Geht hin und seht nach!“ sind ein Aufruf an die Jünger, sich die Mühe zu machen, die sie umgebenden Probleme zu lösen. Es geht hier um jeden Bereich unseres Lebens. Angefangen von unseren privaten Aufgaben über unser unmittelbares Umfeld – Familie, Schule, Arbeitsplatz, Ortsgemeinschaft oder Kirchengemeinde – bis hin zu den globalen Aufgaben, die außerhalb unserer Reichweite scheinen.

Gelegentlich mag uns scheinen, dass die Lösungen außerhalb des uns Möglichen liegen, dass wir es nicht schaffen, dass die Aufgabe zu groß ist. Woher nehmen wir die Milliarden, um den Hunger in der Welt zu stillen? Wir haben nur fünf Brote und zwei Fische zur Verfügung. Doch Christus erwartet, dass wir in seinem Namen Werke tun, die zum Scheitern verurteilt scheinen. Als die Jünger brachten, was sie hatten, taten sie alles, was sie konnten. Er vollendete das Werk. Doch das tat er mit der Hilfe seiner Jünger. Sie waren diejenigen, die dem Volk sagen sollten, dass es sich lagern sollte, die die Speise austeilen sollten und schließlich die Brocken aufsammeln und zusammentragen sollten.

Ich denke, es ist an der Zeit, sich zu fragen, was Jesus Christus von uns erwartet. Er erwartet ein offenes Herz für die Bedürfnisse anderer. Er erwartet offene Augen, um die Realität zu sehen und richtig einzuschätzen. Er erwartet hörende Ohren, um zu erfahren, was andere plagt.  Und schließlich erwartet er Mut, um die Bedürfnisse, Probleme und Bedrohungen zu erkennen und nicht zu zögern, das zu geben, was wir haben. Vergessen wir nicht, dass wir Jesus nicht brauchen, um unsere Probleme zu erkennen, sondern wir brauchen seine Hilfe bei deren Lösung. Wir brauchen ihn, damit er segnet, was wir mit seiner Hilfe tun.  
Amen.