TV-Tipp: "Über die Grenze - Racheengel" (ARD)

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TV-Tipp: "Über die Grenze - Racheengel" (ARD)
13.2., ARD, 20.15 Uhr
Der Auftakt der Reihe "Über die Grenze", "Alles auf eine Karte" (2017), war ein knallharter Thriller mit mehreren Exekutionen, einer Entführung und einer Vergewaltigung; das Opfer war die Tochter von Steffen Herold (Thomas Sarbacher), dem deutschen Leiter des Gemeinsamen Zentrums (GZ), einer deutsch-französischen Ermittlergruppe im badisch-elsässischen Grenzgebiet.

Der Film hob sich nicht nur durch den hohen Grat an Spannung von den sonstigen Donnerstagskrimis der ARD ab, auch die dynamische, zuweilen fast hektische Bildsprache war eine völlig andere. Die Fortsetzung, "Gesetzlos", war dagegen ein gänzlich anderer und ungleich ruhiger gestalteter Film, die Geschichte konzentrierte sich viel stärker auf die Hauptfiguren: Leni Herold (Anke Retzlaff), ebenfalls Mitglied des GZ, versucht, in den Alltag zurückzukehren.

Mit "Racheengel" knüpft Michael Rowitz, der auch die beiden ersten Teile inszeniert hat, an die Machart des Auftakts an. Kameramann Alexander Fischerkosen taucht die Aufnahmen gerade zu Beginn in ein helles Western-Licht, aber ansonsten ist der Stil ist der gleiche: Die rasanten Schnittfolgen (Editor: Achim Seidel), die gerissenen Schwenks und die überfallartigen Zooms verleihen dem Film eine enorme Agilität, die sich deutlich vom Krimialltag abhebt, zumal Helmut Zerlett erneut eine donnernde Kinomusik komponiert hat; sie gibt den Bildern zusätzliche Intensität und sorgt für einen durchgehend hohen Adrenalinpegel. Der Prolog setzt das Vorzeichen, optisch wie inhaltlich. Der Film beginnt mit einer Parallelmontage: hier ein Straßenmusiker, der auf sein Schlagzeug einschlägt, dort eine Kolonne mehrerer Autos. Dass der Vorspann Sarbacher nur noch als Gast führt, lässt erahnen, was nun folgt: Herold wird vor den Augen seiner entsetzten Tochter von einem Schützen auf einem Motorrad hingerichtet.

Vier Monate später hat das Team einen neuen Leiter. Während Leni den Mörder ihres Vaters finden will, hat Niko Sander (Carlo Ljubek) ein anderes Ziel: Er will Florian Geissler (Stephan Kampwirth) zur Strecke bringen. Der Spediteur gilt als angesehener Bürger, aber Sander  ist überzeugt, dass der Mann ein moderner Sklavenhändler ist, der in seinen LKWs Frauen aus Osteuropa nach Deutschland schmuggelt, um sie hier als Prostituierte zu verschachern. Eine dieser Frauen ist die Ukrainerin Natia (Karoline Teska); sie sucht ihre von Geissler verschleppte kleine Schwester. Leni überredet sie, als V-Frau für das GZ zu arbeiten. Als Geissler sie enttarnt, läuft die Aktion komplett aus dem Ruder.

Das von Rowitz bearbeitete Drehbuch (Stefan Wild, Martin Muser) bettet die Krimiebene in eine interessante Rahmenhandlung: Ein besserer Informationsfluss zwischen den Polizeibehörden der EU-Mitgliedsstaaten würde den reibungslosen Menschenschmuggel erheblich erschweren. Geissler versucht daher mit allen Mitteln, die Verschärfung des Schengener Informationssystems durch das Europaparlament zu verhindern; wo Bestechung nicht hilft, greift er zu Erpressung. Stephan Kampwirth, der schon öfter für Rowitz vor der Kamera stand und zuletzt meist Sympathieträger gespielt hat (etwa in der ARD-Arztreihe "Praxis mit Meerblick"), erweist sich als formidabler Schurkendarsteller. Auch für Rowitz ist das Genre ungewohnt: Der erfahrene Regisseur hat bislang vor allem sehenswertes Familienfernsehen ("Hotel Heidelberg") und anspruchsvolle Komödien ("Nichts für Feiglinge", "Mit Burnout durch den Wald") gedreht. Mit "Über die Grenze" hat er eine Reihe geschaffen, die aus dem bildsprachlich oft einfallslosen Krimialltag beinahe konkurrenzlos herausragt; mit seinem hohen Tempo und den ständigen Perspektivwechseln wirkt der Film sogar noch aufwändiger als Roland Suso Richters ähnlich hochklassige "Zürich-Krimi"-Episode "Borchert und die tödliche Falle".

Optisch und akustisch ist "Racheengel" ein Actionfilm, aber letztlich ist das alles nur Handwerk; was wirklich zählt, sind die Figuren. Herolds Partner Yves Kléber wird zu Lenis väterlichem Freund; in einigen Einstellungen scheint Fischerkoesen den Franzosen Philippe Caroit geradezu auf seine blauen Augen zu reduzieren. Beim neuen deutschen GZ-Chef genügt eine Szene, um den Mann in anderem Licht erscheinen zu lassen: Geissler verblüfft Sander bei einem Treffen mit erschütternden Details aus dessen Kindheit. Die zentralen Charaktere der Geschichte sind jedoch die beiden Frauen: Anke Retzlaff sorgt dafür, dass die Motive der nunmehr doppelt gebrochenen Heldin jederzeit nachvollziehbar sind. Zwei Schlüsselszenen verdeutlichen ihre Gefühlslage, beide sind außerordentlich gut gespielt: Auf dem Schießstand entlädt sich der ganze Zorn der jungen Polizistin in einem Overkill; der Epilog schließlich ist ein ungemein berührendes Zwiegespräch, mit dem die Tochter Abschied vom Vater nimmt.

Die enorme Intensität des Films würde bei einer Jugendschutzprüfung sicher die Frage aufwerfen, ob eine Freigabe ab zwölf (und damit eine Ausstrahlung ab 20.15 Uhr) tatsächlich zu verantworten sei. Auslöser der Diskussion könnte ein Video sein, das die Vergewaltigung von Natias Schwester durch gleich zwei Männer zeigt. Geissler pflegt seine Opfer offenbar mit Hilfe von Drogen gefügig zu machen. Das Mädchen ist dadurch rauschgiftsüchtig geworden; später nimmt es sich das Leben. Natürlich hat der Verbrecher auch die Ermordung Herolds in Auftrag gegeben, und  spätestens zum krönenden Finale wird klar: "Racheengel" lässt sich auch als Plural verstehen.