Darum war der Herbst 1989 keine "Wende"

Erste grosse Monatgsdemo in Leipzig am 9. Oktober 1989 mit über 70.000 Teilnehmern.
©epd-bild/Volkmar Heinz
Teilnehmer*innen der ersten großen Montagsdemo in Leipzig am 9. Oktober 1989 mit über 70.000 Teilnehmern.
Mauerfall
Darum war der Herbst 1989 keine "Wende"
30 Jahre nach dem Mauerfall hat das Wort "Wende" mal wieder Hochkonjunktur. Es ziert Buchcover, prangt auf Zeitschriften und wurde sogar im Landtagswahlkampf verwendet. Kirchenhistorikerin Katharina Kunter wehrt sich dagegen und erklärt im Gastbeitrag, warum der Herbst 1989 keine "Wende" war.

Fast immer hatte der Spiegel im Herbst 1989 den richtigen Riecher für seine Titelblätter. Als zehntausende DDR-Bürger nach Ungarn flüchteten, fragte er dramatisch: "Explodiert die DDR?" Ganz in Schwarz konstatierte er zum 40. Jahrestag der DDR am 7. Oktober:  "40 Jahre DDR. Ein Trauerspiel." Damit war aus Sicht der Hamburger Redaktion wohl keine Steigerung mehr möglich. Vielleicht wollte man den Bundesbürgern aber auch nicht noch mehr DDR zumuten.

So erschien der Spiegel Nr. 41 am 16. Oktober 1989 mit dem Cover eines traurigen asiatischen Straßenmädchens und dem Thema Kinderprostitution in der Dritten Welt. Es hätte zu dieser Zeit kaum ein unpassenderes Cover geben können. Denn zwei Tage nach dem DDR-Nationalfeiertag am 9. Oktober 1989 hatten in Leipzig 70.000 Menschen für Freiheit und ein offenes Land demonstriert; mit Kerzen in der Hand, mutig und friedlich. Da fiel den Spiegel-Gestaltern nur noch ein, das aktuelle Titelblatt links oben, mitten im verschwommenen Rotlichtmilieu, mit einer gelben Banderole zu verzieren. Auf der Banderole stand: "DDR - Die Wende".

Leitmotiv von Egon Krenz

Im Heft fand sich ein Artikel über die erste Massendemonstration rund um die Nikolaikirche am 9. Oktober. Er stellte die Frage: "Steht die DDR vor einem Umbruch?". Erstmals wurde hierin der Begriff "Wende" mit dem zivilgesellschaftlichen Aufbegehren gegen den SED-Staat verbunden. Noch aber war er in beide Richtungen offen: So formulierte der Autor in einer eigenen Wortschöpfung einerseits, dass die SED-Oberen jetzt "die Wende" versprochen hätten. Andererseits erklärte er weiter unten mit Bezug auf die Demonstrationen triumphierend: "Die Wende kam aus Sachsen." 

Möglicherweise war es gerade diese Unbestimmtheit, die Egon Krenz, dem gerade frisch gekürten Honecker-Nachfolger und neuen SED-Generalsekretär, gefiel.  Jedenfalls machte er die "Wende" zum Leitmotiv seiner Antrittsrede auf der 5. Tagung des Zentralkomitees der SED und verkündete: "Mit der heutigen Tagung werden wir eine Wende einleiten, werden wir vor allem die politische und ideologische Offensive wieder erlangen".  

Egon Krenz, Vorsitzender des Staatsrates und des Nationalen Verteidigungsrates der DDR, am 24.10.89 bei der Begrüßung der Mitglieder des Staatsrates zur ersten Sitzung nach der 10. Volkskammertagung.

Doch wer in diesen Tagen massenhaft in Sachsen und in vielen anderen Städten der DDR auf die Straße ging, für Demokratie stritt und nach politischen Alternativen suchte, glaubte nicht mehr an diese Wende der SED. Die Schriftstellerin Christa Wolff, Rednerin auf der großen Alexanderplatz-Demonstration am 4. November in Ostberlin vor 500.000 Menschen, zeigte sich deshalb auch verblüfft über die "Wendigen" da oben. Dem Wort Wende traue sie nicht. Denn das, was sich jetzt hier in der DDR vollziehe, sei eine "revolutionäre Erneuerung"; eine Revolution, die von unten ausgehe und nicht mehr von oben. Politikwissenschaftler und Historiker stimmten später dieser Interpretation zu: Der Herbst 1989 war keine systemimmanente Wende und nicht das Werk von oben, von einer erneuerten SED. Er war statt dessen der Motor eines umfassenden Systemwechsels. Er brach mit der Macht des Einparteienstaates und ermöglichte freie Wahlen und Demokratie in einem Land, das das seit 40 Jahren nicht kannte.

Hoffnungen engagierter Christen erfüllen sich nicht

Politisch Nichtangepasste und gesellschaftlich marginalisierte Christen übernahmen öffentliche Rollen und politische Funktionen und suchten nach Wegen, die DDR demokratisch umzugestalten. Bereits 1990 sprach der evangelische Pfarrer Erhart Neubert von der "Protestantischen Revolution", die sich im Herbst 1989 vollzogen habe. Diese Bezeichnung für die revolutionären Ereignisse des Herbstes 1989 blieb aber umstritten. Für kirchliche Akteure des Herbstes 1989 wie etwa den Erfurter Probst Heino Falcke oder den Dresdner Superintendanten Christof Ziemer war weder mit der "Wende", der "Einheit" oder dem Systemwechsel das erfüllt, wofür sie sich 1989 eingesetzt hatten: Den globalen Perspektivwechsel, die Umkehr in den Schalom, in das Reich Gottes. 

###galerie|160776|So trotzden Pfarrer*innen der DDR###

Im wissenschaftlichen Bereich und in der Politischen Bildungsarbeit entwickelte sich nach und nach die Bezeichnung "Friedliche Revolution" als eine Deutung, die auch die damaligen Bürgerrechtler, die sich gegen das Machtmonopol der SED gestemmt hatten, akzeptieren konnten. Nach wie vor wird jedoch um die Deutungsmacht des Herbstes 1989 von verschiedenen Seiten politisch heftig gekämpft: Ehemalige prominente SED-Politiker und Angehörige der heutigen Linken wie die frühere Wirtschaftsministerin Christa Luft hängen bis heute dem Wendenarrativ an - beispielsweise mit Buchtiteln wie "Zwischen Wende und Ende", "Die nächste Wende kommt bestimmt" oder "Wendeland". Auf der anderen Seite hat sich die AFD den Begriff der "Wende" rhetorisch im Kontext der Landtagswahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen als "Wende 2.0" angeeignet. Sie wendet sich an die unzufriedenen und enttäuschten Ostdeutschen und fordert sie auf, jetzt mit ihrem Stimmzettel für die AFD die "Wende" zu vollenden und "Bürgerrechtler" zu werden. Dass frühere DDR-Bürgerrechtler gegen diese Vereinnahmung vehement protestieren, liegt auf der Hand. 

Doch im Jubiläumsjahr des Herbstes 1989 können alle dazu beitragen, dass in der  öffentlichen Wahrnehmung im Westen und im Osten genau der Minderheit, die vor 30 Jahren couragiert auf die Straße ging und sich für die Demokratisierung der DDR einsetzte, Respekt und historische Anerkennung gezollt wird. Egal, ob man im Westen oder Osten der Republik lebt: Einfach "Friedliche Revolution" statt "Wende" sagen und schreiben.