TV-Tipp: "Ein ganz normaler Tag"

Alter Fernseher vor gelber Wand
Foto: Getty Images/iStockphoto/vicnt
TV-Tipp: "Ein ganz normaler Tag"
8.4., Sat.1, 20.15 Uhr
Der Titel ist bittere Ironie. Für die Betroffenen ist es natürlich kein "ganz normaler Tag", für Polizei und Staatsanwaltschaft aber schon, weil sich Vorfälle dieser Art häufen: Zwei offenbar unterbeschäftigte, aber hyperaggressive Jugendliche provozieren einen jungen Mann mit dunkler Hautfarbe so lange, bis er sich wehrt; und dann fallen sie über ihn her.

Mit ungezügelter Wut prügeln und treten sie auch dann noch wie von Sinnen auf ihr Opfer ein, als es längst bewusstlos auf dem Boden liegt. Der Angriff ereignet sich in einer Straßenbahn, die Freundin des Mannes zieht die Notbremse, die Polizei nimmt die beiden Schläger fest, die Zeugen geben ihre Aussage zu Protokoll; scheinbar leichtes Spiel für die junge Staatsanwältin Jessica Maurer (Sonja Gerhardt). Ihr Chef fordert sie auf, die ganze Härte des Gesetzes walten zu lassen; schon viel zu oft seien jugendliche Schläger mit lächerlichen Bewährungsstrafen davongekommen. Die Staatsanwältin erhebt Anklage wegen Körperverletzung und versuchten Todschlags. Es ist ihr erster Fall, und die Sache scheint klar; bis ein Zeuge nach dem anderen seine Aussage zurückzieht.

Produziert wurde "Ein ganz normaler Tag" von Zeitsprung Pictures; das Kölner Unternehmen genießt dank einer ganzen Reihe vielfach ausgezeichneter Produktionen wie "Das Wunder von Lengede" (2003, Sat.1), "Contergan" (2006, WDR), "Der Fall Barschel" (2016, ARD) oder dem Kinofilm "Das Tagebuch der Anne Frank" (2016) einen ausgezeichneten Ruf. "Ein ganz normaler Tag" ist der Abschluss einer Trilogie, die Sat.1 unter die Devise "Wir zeigen Haltung" gestellt hat; Auftakt war das Vergewaltigungsdrama "Lautlose Tropfen", es folgte der Stalker-Film "Dein Leben gehört mir". Bei der Umsetzung der Stoffe ist bewusst auf Effekthascherei verzichtet worden. Die beiden anderen Filme enthielten zwar gerade gegen Ende gewisse Thriller-Momente, aber der Anspruch, sich seriös mit den Themen auseinanderzusetzen, war offenkundig.

Für "Ein ganz normaler Tag" gilt das erst recht. Martin Rauhaus hat die Drehbücher einer Vielzahl herausragender Fernsehfilme geschrieben, allen voran das Krebsdrama "Ein starker Abgang" (2009), der Terrorfilm "München 72 - Das Attentat" (2012) oder Tragikomödie "Nichts für Feiglinge" (2014). Einen nicht minder herausragend guten Ruf genießt der für seine "Sams"-Filme mehrfach ausgezeichnete holländische Regisseur Ben Verbong, der seit einigen Jahren viel fürs deutsche Fernsehen arbeitet; er hat zuletzt vor allem anspruchsvolle Freitagskomödien für die ARD gedreht ("Mona kriegt ein Baby", "Sophie kocht", "Hochzeitskönig", 2014/15) sowie "Honigfrauen" (2017) fürs ZDF. Der Urlaubs-Dreiteiler mit politischem Hintergrund war zwar deutlich zu lang, aber die beiden Hauptdarstellerinnen waren sehenswert; die eine war Cornelia Gröschel, die andere Sonja Gerhardt, die nicht zuletzt dank "Ku’damm 56" und "Ku’damm 59" längst zu den Topstars im deutschen Fernsehen zählt. 

Für die Rolle der Staatsanwältin wirkt die kürzlich dreißig Jahre alt gewordene Schauspielerin fast zu jung. Andererseits ist gerade die Jugendlichkeit wichtig für die Figur, weil Jessica Maurer die Abgebrühtheit einer erfahrenen Juristin fehlt. Entsprechend emotional reagiert sie auf die Achterbahnfahrt, die sie durchlebt: hier die Freude über die Herausforderung durch einen Fall, der Schlagzeilen gemacht hat, dort die Rückschläge, als die Zeugen umfallen. Zu allem Überfluss wird auch noch ihr Freund zusammengeschlagen, um sie einzuschüchtern. Der ernstzunehmende Ansatz des Films zeigt sich nicht zuletzt im Umgang mit den Nebenfiguren. Die Fahrgäste ziehen ihre Aussagen keineswegs leichtfertig zurück: Ein verwitweter alter Mann (Holger Franke) wird erst von sogenannten besorgten Bürgern bedroht, dann wird sein Hund vergiftet; die krebskranke Mutter einer jungen Frau (Mira Elisa Goeres) erhält viel Geld für eine teure Therapie. Nicht weiter erläutert wird allein das Motiv eines zweiten Mannes (Oliver Bröcker), dessen aussagewillige Freundin schockiert zur Kenntnis nehmen muss, dass er kneift, als es drauf ankommt. Somit bleiben nur noch zwei Zeugen übrig, darunter die natürlich nicht unbefangene Freundin (Stephanie Amarell) des Opfers, ein in Deutschland geborener Student (Julius Dombrink), der nun im Koma liegt. Weil die beiden Täter frech behaupten, er habe angefangen, steht Aussage gegen Aussage. Jessicas letzte Hoffnung ist ein Ortstermin, und so finden sich alle Beteiligten inklusive Richter und Verteidiger in einer Straßenbahn ein, um den Tathergang zu rekonstruieren.

Rauhaus und Verbong muten ihrem Publikum eine Menge zu, und das gilt nicht nur für die gut vermittelte Ohnmacht der Staatsanwältin. Viele Zuschauer werden die Kaltblütigkeit und Impertinenz der jugendlichen Delinquenten unerträglich finden; ihre Brutalität lässt die Gewaltszene wie eine Hinrichtung wirken. Die Zuspitzung dieser beiden von Béla Gábor Lenz und Maximilian Beck unangenehm authentisch verkörperten Figuren, der eine als intelligenter Wortführer, der andere als Mitläufer und Mittäter, sorgt dafür, dass das Entsetzen der Freundin des Studenten umso besser nachzuvollziehen ist, zumal die Geschichte natürlich zu einer bestimmten Haltung anregen will. Der gesamte Handlungsaufbau läuft auf eine Frage hinaus, die sich jeder Zuschauer stellen soll: Wie würde ich mich in so einem Fall verhalten? Der entsprechende Appell zur Zivilcourage mündet in die einzige schwache Szene des Films, als Jessica in einem Epilog vor der Presse noch mal in Worte fasst, was die knapp neunzig Minuten längst vermittelt haben.