TV-Tipp: "Kommissarin Lucas: Polly"

Alter Fernseher vor gelber Wand
Foto: Getty Images/iStockphoto/vicnt
TV-Tipp: "Kommissarin Lucas: Polly"
6.4., ZDF, 20.15 Uhr
Im Grunde ist dieser Film kein Krimi, selbst wenn die eigentliche Handlung mit dem obligaten Leichenfund beginnt. Die ersten Bilder zeigen jedoch Videoaufnahmen einer jungen Frau: Moni, Teenager, blond gelockt, fröhlich, aufgekratzt. Aber nun ist Moni tot; sie ist gerade mal 17 Jahre alt geworden.

 Gefunden wird sie auf einer Plattform in einem Baum, wie aufgebahrt; später heißt es, sie sollte dem Himmel auf diese Weise näher sein. Es ist Herbst, aber Vögel haben zwischen ihren Armen ein Nest gebaut; die Leiche wartet also mindestens seit dem Frühjahr auf ihre Entdeckung. Die 28. Episode aus der Regensburger Krimireihe "Kommissarin Lucas" mit Ulrike Kriener hätte auch "Moni" heißen können; denn das von Luise von Finckh vorzüglich und sehr natürlich verkörperte Mädchen ist permanent präsent, weil Regisseur Nils Willbrandt immer wieder kurze Videos einfügt. Der Film heißt jedoch "Polly", denn das Drehbuch erzählt die typische ABF-Geschichte zweier Teenager, die sich allerbeste Freundschaft schwören, für immer und ewig; bis der Tod dazwischen kommt.

Ungewöhnlich ist allerdings der Hintergrund, denn Moni und Polly, von Marie Bloching ebenfalls ausgezeichnet gespielt, lernen sich in einem Heim für schwererziehbare Mädchen mit krimineller Vergangenheit kennen. Deshalb hätten die Autoren (Markus Ziegler, Stefan Dähnert) dieses Drama auch ganz anders gestalten können, etwa als Mittwochsfilm im "Ersten"; und dann hätte die Polizei überhaupt keine Rolle gespielt. Selbst wenn Ellen Lucas und ihr junges Ermittlerduo Judith und Tom (Jördis Richter, Lasse Myhr) einen Täte suchen und die entsprechende Nachforschungen anstellen: Mit klassischen Krimigeschichten hat „Polly“ nicht viel gemeinsam. Das Drehbuch handelt in erster Linie von einer vorsichtigen Annäherung zwischen Polly und der Kommissarin. Lucas ahnt, dass der Weg zur Lösung über das Mädchen führt, und versucht, sein Vertrauen zu gewinnen. Tatsächlich taucht Polly sogar bei ihr zuhause auf. Trotzdem orientiert sich der Film nun nur scheinbar an der üblichen Konvention, eine Vernehmung mit entsprechenden Rückblenden zu illustrieren, denn das Gespräch verläuft eher stockend, weil die junge Frau – "ja, vielleicht, keine Ahnung" – nicht viel preisgibt. Willbrandt lässt bei seiner auffallend ruhigen Umsetzung offen, ob sich die Bilder, die er zeigt, nur in Pollys Kopf abspielen oder ob sie ihre Erzählungen illustrieren.

Zwischendurch kehrt der Film allerdings immer wieder in die Wirklichkeit zurück. Dafür sorgen die geschickt integrierten Weggefährten von Ellen Lucas, für die sich der Film auf sympathische Weise Zeit nimmt: Vermieter Max (Tilo Prückner) nimmt Polly unter seine Fittiche, als wäre sie seine Enkelin. Derweil finden Judith und Tom heraus, dass sich einige der minderjährigen Heiminsassinnen mit Hilfe des halbseidenen Mathieu (Frederic Linkemann) aus dem nahen Dorf ein paar Euro dazu verdient haben: Mathieu betreibt einen erotischen Live-Chat; vor seiner Kamera hat sich offenbar auch Moni geräkelt, und dabei er sich in die hübsche junge Frau verliebt. Eine weitere Spur führt ins nahe Tschechien, wo sich der Betreiber des Heims mit Hilfe eines tschechischen Partners eine goldene Nase verdient: Die dort durchgeführten angeblichen intensiv-pädagogischen Maßnahmen entpuppen sich als Sozialbetrug in großem Stil. Dass der Mann Dreck am Stecken hat, ist nicht weiter verwunderlich, denn er wird von Arnd Klawitter verkörpert, und der gehört in Reihenkrimis grundsätzlich zum Kreis der Verdächtigen. Hier spielt allerdings ebenso bloß eine Nebenrolle wie Jule Ronstedt als Heimleiterin, die sich angesichts der Missstände ähnlich verhält wie die zuständige Frau vom Jugendamt: Sie schaut einfach weg; gut möglich, dass hier authentische Fälle als Vorbild gedient haben.

Dass „Polly“ trotzdem kein tristes Sozialdrama ist, liegt vor allem an den drei Hauptdarstellerinnen. Luise von Finckh hat dabei die vermeintlich leichteste Rolle, weil sie quasi als Gaststar immer wieder nur in kurzen Einschüben auftaucht, aber in diesen Filmchen, die wie ein Videotagebuch wirken, entwickelt sie eine eindrucksvolle Präsenz. Außerdem offenbaren die Schnipsel schließlich eine eigene Dramaturgie, denn die Fröhlichkeit vom Anfang verfliegt nach und nach; und das nicht nur wegen der brutalen Sequenz, in der erklärt wird, warum der Leichnam mehrere nie behandelte Fingerbrüche aufweist. In der Gegenwart ist die Stimmung ohnehin von Anfang an bedrückt, zumal Willbrandt und Kameramann Jens Harant die Geschichte in gedeckten Farben erzählen. Viele Szenen sind offensichtlich mit einer Handkamera gedreht worden und entsprechend dynamisch, aber die Bildgestaltung wirkt dennoch nie hektisch. Natürlich hat auch das introvertierte Spiel von Marie Bloching großen Anteil an der Wirkung des Film, zumal es ihr scheinbar mühelos gelingt, sich neben einem Profi wie Ulrike Kriener zu behaupten; und das, obwohl Polly ein ziemlich stiller Typ ist. Trotzdem ist sie der Hauptgrund dafür, warum sich diese Episode von allen anderen Beiträgen der Reihe abhebt: weil die sonst so kühle und distanzierte Kommissarin Lucas deutlich betroffener ist als in anderen Fällen.