TV-Tipp: "Ostfriesenblut" (ZDF)

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TV-Tipp: "Ostfriesenblut" (ZDF)
29.12., ZDF, 20.15 Uhr
Es gibt immer mehrere Möglichkeiten, eine Szene zu verfilmen. Viele Regisseure begnügen sich mit der erstbesten, weil das am einfachsten ist. Dabei ist es doch für alle Beteiligten und selbstverständlich auch für die Zuschauer viel reizvoller, wenn eine Einstellung nicht auf Anhieb alles preisgibt.

Die erste Spielszene von "Ostfriesenblut" zeigt den Rücken eines Mannes; zu hören ist allerdings die Stimme einer Frau. Als sie um ein Glas Wasser bittet, steht er auf. Die Frau sitzt an einem Tisch, die Kamera fährt langsam auf sie zu. Der Mann stellt das Glas vor ihr ab, aber sie rührt sich nicht. Der Grund wird erst sichtbar, als die Kamera weiter fährt: Ihre Handgelenke sind mit Paketklebeband an die Armlehnen des Stuhls gefesselt. Er sagt "Stell’ dich nicht so an"; und jetzt weiß sie, wer ihr Peiniger ist.

Dieser Einstieg gibt einen guten Vorgeschmack auf den zweiten Film der im letzten Jahr gestarteten Krimireihe; wie "Ostfriesenkiller", so basiert auch "Ostfriesenblut" auf einem Roman von Klaus Peter Wolf. Die Adaption besorgte diesmal Nils-Morten Osburg, dessen Geschichten (unter anderem die beiden "Island-Krimis" mit Franka Potente) immer interessant sind. Regie führte Rick Ostermann, der vor einigen Jahren mit dem Nachkriegsdrama "Wolfskinder" (2014) ein beachtliches Kinodebüt gedreht hat, aber offenkundig kein Thriller-Regisseur ist; zumindest hat er bei seinem ersten Fernsehfilm "Fremder Feind" (ARD) darauf verzichtet, die Auseinandersetzungen zwischen einem Einsiedler und einem Eindringling als existenziellen Zweikampf zu inszenieren, und auch sein "Dengler"-Krimi ("Fremde Wasser", ZDF) hätte gerade im Vergleich zu den anderen Filmen der Reihe ruhig ein bisschen spannender ausfallen können. Andererseits war Sven Bohse ("Ku’damm 56"), Regisseur von "Ostenfriesenkiller", ebenfalls kein ausgewiesener Thriller-Spezialist. Tatsächlich ist das psychologische Moment auch im zweiten Film deutlich wichtiger; Nervenkitzel ist hier eher Nebensache. Die Heldin, Kommissarin Ann Kathrin Klaasen (Christiane Paul), kommt ins Spiel, als sie vor ihrer Garage eine Leicht entdeckt; es handelt sich um die alte Frau aus der Anfangsszene. Klebeband verhindert, dass sich ihre Augenlider schließen können. Kurz drauf wird die Leiche eines offenbar mit großer Wut erschlagenen Mannes gefunden. Da sein Mund voller Essensabfälle ist, ahnt Klaasen, dass der Mörder Zeichen setzen will. Als sie sich einen Videofilm anschaut, der die alte Frau vor ihrem Bücherregal zeigt, fällt ihr auf, dass ein Buch fehlt. Diese Spur führt geradewegs zurück in die Siebziger und in ein Kinderheim, dessen furchtbarer Leiter ein Anhänger der schwarzen Pädagogik war und Vergehen der Heimkinder auf eine Weise bestrafte, die heutzutage den Tatbestand der Folter erfüllen würde.

Auch wenn der Film die Ermittlungen der Kommissarin begleitet: "Ostfriesenblut" ist kein Krimi nach dem klassischen "Wer wars?"-Muster, denn der Täter steht von Anfang an fest. Gemeinerweise verkörpert Jörg Schüttauf den Mörder Hagemann sogar recht sympathisch, und seine Taten sind ohnehin nachvollziehbar, denn sie gelten all’ jenen, die damals am Leid der Jungs beteiligt waren. Die ermordete alte Frau war Assistentin eines Arztes, sie hätte den Kindern helfen können, hat es aber vorgezogen wegzuschauen, wenn ihr Chef die unübersehbaren Spuren der Prügelstrafe als Folgen eines Sturzes zur Kenntnis nahm: "Stell’ dich nicht so an." Der Film dokumentiert die erschütternden Heimerlebnisse mit Rückblenden, die ihre Wirkung nicht verfehlen. Osburg und Ostermann setzen ohnehin mehr auf Empathie als auf Krimispannung. Deshalb hat auch Klaasens Chef (Kai Maertens) einen Bezug zu dem Heim, allerdings nicht als Zögling; trotzdem weiß er, was es heißt, wenn man mit einer Schuld leben muss.

Die Verknüpfung der Ermittlungsebene mit Klaasens Privatleben ist diesmal deutlich besser gelungen, denn Hagemann ist überzeugt, die Polizistin sei eine Schwester im Geiste. Er hat mehrere Überwachungskameras in ihrem Haus installiert und weiß daher nicht nur, dass ihr Sohn Ärger mit seiner Lehrerin hat, sondern auch, dass ihr Mann Hero (Andreas Pietschmann) zu seiner Freundin gezogen ist; und die ist zusammen mit dem ehemaligen Heimleiter (Peter Franke), den Hagemann aus der Seniorenresidenz entführt, sein nächstes Opfer. Überflüssig ist dagegen die Überzeichnung des Ex-Partners. Der Sohn hat aus Rache ein FKK-Foto seiner Lehrerin ins Netz gestellt. Die Polizistin will, dass der Junge die Verantwortung dafür übernimmt, aber sein Vater findet das alles gar nicht so schlimm. Diese Haltung gipfelt in einem unglaubwürdigen Gespräch mit der Rektorin, der Hero vorwirft, die Schule erziehe die Kinder zu kleinen Spießern.

Davon abgesehen ist "Ostfriesenblut" gerade wegen des stillen Kräftemessens zwischen der Kommissarin und dem Mörder sehenswert. Anrührend sind auch die oftmals unvermittelten Szenen mit Klaasen und ihrem verstorbenen Vater (Ernst Stötzner), der sich immer wieder mal zum Zwiegespräch einfindet. Die clevere Kameraarbeit (Frank Küpper) und eine geschickte Montage verdeutlicht, dass sich die Beteiligten bei der Umsetzung dieser Szenen ebenfalls viele Gedanken gemacht haben. Die intuitiven Momente, in denen die Ermittlerin dank einer Art sechstem Sinn bei Befragungen von Verdächtigen einen Blick auf die Wahrheit erhascht, hat Ostermann so beiläufig inszeniert, dass sie fast nicht auffallen, und auch diese Form der Reduktion tut dem Film gut; daher genügt es völlig, dass die Musik (Stefan Will) von Zeit zu Zeit unheilvolle Akzente setzt.