TV-Tipp: "Solo für Weiss: Das verschwundene Mädchen" (ZDF)

Alter Fernseher vor gelber Wand
Foto: Getty Images/iStockphoto/vicnt
TV-Tipp: "Solo für Weiss: Das verschwundene Mädchen" (ZDF)
19.11., ZDF, 20.15 Uhr
Einige Zuschauer werden sich erinnern: Bis vor gut zehn Jahren gab es im ZDF eine Krimireihe mit einem ganz ähnlichen Titel. Barbara Rudnik spielte eine Schweriner Polizeipsychologin namens Hannah Schwarz, und schon damals passte der wenig einfallsreiche Titel "Solo für Schwarz".

Gleiches gilt für die Filme mit Anna Maria Mühe als Zielfahnderin des Landeskriminalamts Schleswig-Holstein. Auch der Handlungsort ist wohlbekannt: Nora Weiss lebt und ermittelt in Lübeck; die Menschen dort werden sich freuen, dass ihre Stadt nach dem Ende von "Das Duo" (2002 bis 2012, ebenfalls ZDF) wieder Krimischauplatz ist. Das Drehbuch (Thomas Berger, Mathias Klaschka) des Reihenauftakts (eine Wiederholung aus dem Jahr 2016) erspart sich lange Vorreden und kommt gleich zur Sache: Vor einem Lübecker Gericht wird der mutmaßliche Kindsmörder Mattner (Philipp Hochmair) verurteilt. Die Leiche seines 13-jährigen Opfers ist zwar nicht gefunden worden, der Mann beteuert außerdem seine Unschuld, aber die Blutspuren in der Wohnung sind dem Gericht Indiz genug. Parallel dazu feiert eine Familie im lettischen Riga den Geburtstag der neunjährigen Daina, dem Patenkind von Nora Weiss. Nach der Feier darf das Mädchen seine Patentante nach Lübeck begleiten, und dann überschlagen sich die Ereignisse: Im Gerichtsgebäude gelingt Mattner die Flucht, auf der Fähre verliert Nora ihr Patenkind aus den Augen; das Kind ist spurlos verschwunden.

Thomas Berger ("Wir sind das Volk - Liebe kennt keine Grenzen"), der vor zwanzig Jahren mit den beiden witzigen "Busenfreunde"-Komödien (ProSieben) gleich einen prima Start hatte und seit 2003 ein Dutzend Episoden für die von ihm kreierte Reihe "Kommissarin Lucas" gedreht hat, inszeniert diese beiden Szenen angemessen packend. Gerade die Fluchtumstände säen einen Zweifel, der sich fortan durch die gesamte Geschichte zieht, denn Mattner sollte offenkundig "auf der Flucht erschossen" werden. Nora wiederum setzt alle Hebel in Bewegung, um Daina zu finden, bekommt aber keinen Gerichtsbeschluss, um die Fähre am Auslaufen zu hindern. Die Figur wird nun mit einer enormen Herausforderung konfrontiert: Natürlich will sich die Ermittlerin voll und ganz darauf konzentrieren, nach dem Mädchen zu suchen, aber ihr Vorgesetzter, Jan Geissler (Peter Jordan), setzt sie auf Mattner an.

Dieser Akt der emotionalen Selbstverleugnung überschreitet zwar die Grenze der Glaubwürdigkeit, ist aber innerhalb des Films plausibel, weil Anna Maria Mühe die Beamtin sehr stringent als kontrollierte Frau verkörpert, die wie auf Knopfdruck alle Gefühle ausschalten kann. Deshalb gerät sie auch nicht in Panik, als Daina weg ist, sondern reagiert professionell. Außerdem verfügt Nora Weiss offenbar über spezielle analytische Fähigkeiten, wie Berger beiläufig andeutet. Wichtig für die Persönlichkeit ist auch der biografische Hintergrund: Noras Vater (Rainer Bock), ein protestantischer Pastor und früherer ostdeutscher Bürgerrechtler, hatte sie einst nach dem frühen Tod der Mutter in eine Pflegefamilie gegeben. Das steht bis heute zwischen ihnen und hat wohl auch dazu geführt, dass sie vor allem sich selbst vertraut; zumindest in dieser Hinsicht hat der Reihentitel also eine gewisse Berechtigung. Solistin ist Nora Weiss trotzdem nicht, denn bei der Jagd nach Mattner wird sie von Simon Brandt (Jan Krauter) unterstützt. Der mitunter recht brüske Umgang mit dem Kollegen aus dem Lübecker Morddezernat unterstreicht ihre Fähigkeit, sich derart kompromisslos auf einen Fall zu konzentrieren, dass für Höflichkeiten oder gar Antworten auf Fragen nach dem Privatleben keine Zeit bleibt. Dabei ist Brandts Neugier, wie sich Nora mit ihrem überschaubaren LKA-Gehalt ein Haus am Meer leisten kann, durchaus verständlich.

Anna Maria Mühe erzählt in einem ZDF-Interview, ihr sei schon öfter angeboten worden, eine Ermittlerin zu spielen, doch sie habe immer das Gefühl gehabt, "das alles schon gesehen zu haben". Mit Nora Weiss ist der Typus der Kommissarin zwar nicht neu erfunden worden, aber die Figur zeichnet sich tatsächlich nicht allein dadurch aus, dass diese Rolle die erste ihrer Art für Mühe ist. Die vielbeschäftigte Schauspielerin ist bekannt dafür, dass sie ihre Rollen sehr sorgfältig auswählt und gern auch mal unbequeme Figuren spielt (allen voran Beate Zschäpe in der "NSU"-Trilogie). Sie wirkt hier deutlich sportlicher als in anderen Filmen und verzichtet völlig darauf, Nora mit jener Wärme zu beseelen, die viele ihrer Figuren auszeichnet; das Strahlen ihrer großen blauen Augen musste einem kühl analytischen Blick weichen.

Diese auch körperlich vermittelte Härte der Figur ist Voraussetzung dafür, dass viele von Noras Verhaltenweisen überhaupt erst schlüssig werden; selbst gegenüber ihrer Freundin Anna (Natalia Rudziewicz), der Mutter von Daina, kann oder will sie nicht aus ihrer Haut. Im wirklichen Leben stünde Nora Weiss noch am Anfang ihrer Karriere. Dass man Mühe die erfahrene Polizistin abnimmt, hängt kurioserweise auch mit ihrer umfangreichen Filmografie zusammen: Die Schauspielerin ist gerade mal dreißig, aber schon seit 2002 im Geschäft und dreht bis zu fünf Filme pro Jahr. Rund um die interessante Hauptfigur haben Berger und Koautor Klaschka eine nicht minder fesselnde Geschichte gestrickt: Es stellt sich raus, dass Mattner für eine Organisation gearbeitet hat, die Kinder entführt und zur Prostitution zwingt, und natürlich fürchtet Nora, dass auch Daina für immer in diesem Sumpf verschwunden ist. Schließlich bekommt sie eine SMS von Mattner, der ihr ein Geschäft vorschlägt: Wenn sie seine Unschuld beweist, sagt er ihr, wo ihr Patenkind ist. Nora lässt sich auf den Deal ein. Dass ihr Ur-Misstrauen dennoch seine Berechtigung hat, zeigt sich ausgerechnet an einer Stelle, an der sie dies am wenigsten erwartet hätte. 

Im Gegensatz zur Titelheldin erlaubt sich das Drehbuch einige schwache Momente, die prompt ein wenig aus dem Rahmen fallen. Die Eltern des vermeintlich getöteten Mädchens sind angesichts der Bedeutung ihrer kleinen Rollen mit Bernhard Schütz und Steffi Kühnert im Grunde zu prominent besetzt; allerdings wirken sie auch im zweiten Film mit, der den Fall wieder aufgreift. Trotzdem sind einige ihrer Szenen schlicht überflüssig. Für die Auftritte von Rainer Bock gilt das hingegen überhaupt nicht, weil er als Noras Vater dazu beiträgt, dass sich das Wesen der Hauptfigur besser erschließt. Zu wenig Konturen bekommt dagegen Simon Brandt, gemeinsam mit Noras Chef immerhin eine der drei Hauptfiguren. Dass der junge Mann im Ruhrgebiet verdeckt gegen die Wettmafia ermittelt und nun einen Haufen Spielschulen hat, wirkt wie ein nur halbwegs gelungener Versuch, die Figur interessanter zu machen. Die erste Begegnung der beiden, als Brandt mit seinem Auto auf einem Parkplatz gegen Noras Aktenwagen fährt, erinnert an unzählige ähnliche Szenen aus romantischen Komödien, funktioniert dank Bergers Umsetzung aber trotzdem. Bis auf die Führung der kleinen Daina-Darstellerin Grace Serrano-Zameza, deren Dialoge aufgesagt klingen, ist die dichte Inszenierung der handlungsreichen Geschichte ohnehin im positiven Sinne gutes Handwerk; die Bildgestaltung besorgte der erfahrene Frank Küpper, der viele Jahre lang Stammkameramann des verstorbenen Carlo Rola war. Die Musik (Florian Tessloff) ist stimmig und übernimmt an genau den richtigen Stellen die Führung. Den zweiten Teil, "Die Wahrheit hat viele Gesichter", zeigt das ZDF im Anschluss.