TV-Tipp: "Tatort: Treibjagd" (ARD)

Alter Fernseher vor gelber Wand
Foto: Getty Images/iStockphoto/vicnt
TV-Tipp: "Tatort: Treibjagd" (ARD)
18.11., ARD, 20.15 Uhr
Mit den üblichen Beziehungstaten halten sich Thorsten Falke und Julia Grosz meist gar nicht auf. Die beiden sind schließlich von der Bundespolizei, weshalb es in den Krimis mit Wotan Wilke Möhring und Franziska Weisz stets um Themen von besonderer Relevanz geht: mal entkommt eine Rechtspopulistin nur knapp einem Mordanschlag ("Dunkle Zeit", 2016), mal bringt ein heimgekehrter deutscher "IS"-Kämpfer den Terror nach Deutschland ("Zorn Gottes", 2016), mal stirbt ein Flüchtling qualvoll in einer Polizeizelle ("Verbrannt", 2015).
"Treibjagd" fällt daher etwas aus dem Rahmen, denn der Film erzählt eine für das NDR-Team eher untypische Geschichte, die zudem an den Kölner Krimi "Wacht am Rhein" (2017) erinnert: Weil sich in einem Hamburger Siedlungsvorort die Einbrüche häufen und die Polizei trotz einer eigens gegründeten "Super-Soko" ganz offensichtlich machtlos ist, sorgen die Einwohner selbst für Recht und Ordnung. Einige Mitglieder der Nachbarschaftsgemeinschaft haben einen perfiden Plan ersonnen, aber davon haben Falke und Grosz natürlich zunächst keine Ahnung, als sie zu einem Einbruch mit Todesfolge gerufen werden. Der Hausbesitzer sagt, er habe einen bewaffneten Einbrecher überrascht und in Notwehr erschossen. Der Sachverhalt scheint klar zu sein, aber Falke behandelt den Mann trotzdem wie einen Täter und nicht wie ein Opfer. Dabei spielen sicher auch Selbstvorwürfe eine Rolle, denn der junge Mann war der Polizei am selben Tag ins Netz gegangen, weil in seinem Wagen Einbruchswerkzeug gefunden worden war. Grosz wollte Kolya (Tilman Pörzgen) über Nacht dabehalten, um ihm einen Denkzettel zu verpassen, Falke hat ihn laufen gelassen. Zu allem Überfluss ist die Waffe in der rechten Hand des Toten eine Attrappe. Das ganze Ausmaß dieses Falls offenbart sich dem Hauptkommissar aber erst später, als er sich noch mal das Video von der Vernehmung anschaut: Der Junge war Linkshänder. Da am Tatort eine zweite Hülse gefunden worden ist, gab es wohl einen zweiten Einbrecher. Falke ahnt auch, um wen es sich dabei handelt: Kolya ist nach der Vernehmung von seiner Freundin abgeholt worden.
 
Auch "Treibjagd" erzählt also keine gewöhnliche Krimigeschichte. Die Spannung des Films resultiert nicht aus der Tätersuche, sondern aus einem Wettlauf um Leben und Tod: Falke und Grosz müssen die junge Maja (Michelle Barthel) vor den Mitgliedern der Nachbarschaftsinitiative finden. Immer wieder sorgt das Drehbuch (Benjamin Hessler, Florian Oeller) für kleine Nervenkitzelmomente, wenn das Duo von der Bundespolizei das verletzte Mädchen nur knapp verpasst oder Majas Verfolger in seinem Versteck bloß eine Armlänge entfernt ist. Clever ist auch die Besetzung dieser Leute: Die Verantwortlichen haben sich für Schauspieler entschieden, die zwar viel Erfahrung haben, den meisten Zuschauern aber kaum bekannt sein dürften; das unterstreicht den Eindruck, dass diese Menschen wie ganz gewöhnliche Nachbarn wirken. Hinzu kommt ein nachvollziehbares Motiv: Entscheidender Gegenspieler der Ermittler ist nicht Dieter Kranzbühler (Jörg Pose), der den tödlichen Schuss abgegeben hat, sondern sein Bruder Bernd (Andreas Lust), der ihn schützen will und deshalb die Zeugin beseitigen muss. Dritter im Bunde ist ein harmloser Familienvater (Sascha Nathan), der sich vom Mitläufer zum Mittäter wandelt und nicht mal davor zurückschreckt, Falkes Sohn zu überfallen. 
Regie führte Samira Radsi, die sich auch mit "Treibjagd" weiter zielstrebig in die Riege der wichtigsten deutschen Regisseurinnen vorarbeitet. Neben diversen Serien, darunter immerhin "Deutschland 83" und "Die Protokollantin" sowie die internationalen Produktionen "No Offence" und "Ice", hat sie unter anderem zwei Episoden aus der ARD-Krimireihe "Die Füchsin" sowie zuletzt einen sehenswerten "Tatort" aus Münster, "Schlangengrube", inszeniert. Bis auf eine interessante Jump-Cut-Einstellung aus der Vogelperspektive auf die flüchtende Maja ist "Treibjagd" optisch unauffällig, aber sehr sorgfältig gestaltet (Kamera, wie schon öfter bei Radsi: Hermann Dunzendorfer). Gerade zu Beginn sorgt auch die interessante elektronische Musik (Dürbeck & Dohmen) für Spannung, aber ansonsten lebt der Film vor allem vom Kontrast zwischen den handelnden Personen: hier die Mitglieder der "Nachbarschaftswache", besorgte Bürger, die sich zu ungeheuerlichen Taten hinreißen; dort die Polizisten, die wegen der Einbruchsserie nicht viele Freunde haben. Eine weitere Erzähl-Ebene bildet die Website der Initiative. "Internet ist für Spacken", stellt der durch und durch analoge Falke irgendwann fest: Die Betreiber stellen ständig neue Fotos auf die Seite, bei denen der Hauptkommissar nicht gut wegkommt; erst recht, als Kranzbühler nach einer Intensivbefragung einen Herzinfarkt bekommt. Die entsprechenden Kommentare der Nutzer werden anders als in den meisten ARD- und ZDF-Produktionen für ein großes Publikum zum Glück nicht vorgelesen, sondern erscheinen wie auf einer Leinwand hinter den Protagonisten. Kontrastreich ist wie eh und je auch das Ermittlerduo, aber anders als sonst, weil die bislang stets eher unterkühlte Oberkommissarin diesmal betont weibliche Züge hat, und das nicht nur wegen der längeren Haare: Im Gegensatz zum impulsiven Falke, der seiner Empörung freien Lauf lässt, setzt die Kollegin bei ihren Befragungen auf Empathie und ist dabei prompt deutlich erfolgreicher. Das macht sie automatisch zur Antipodin der Leute von der Nachbarschaftswache. Es ist nicht zuletzt deren realitätsnahe Schilderung, die den Reiz und die Relevanz von "Treibjagd" ausmachen: brave Menschen, die Müll trennen, den Vorgarten pflegen und zu Mördern werden.