TV-Tipp: "Herbert" (ARD)

Foto: Getty Images/iStockphoto/vicnt
TV-Tipp: "Herbert" (ARD)
29.5., ARD, 22.45 Uhr
Einst galt er als "der Stolz von Leipzig": Im Westen hätte der Boxer Herbert Stamm garantiert eine Profikarriere gemacht, im Osten reichte es nur zu regionalem Ruhm. Nun wird Herbert, der sein Dasein mittlerweile als Inkassomann und Rausschmeißer fristet, als Boxtrainer aber immer noch der großen Leidenschaft seines Lebens frönt, mit einem letzten Kampf konfrontiert, den er nur verlieren kann.

Schlicht "Herbert" hat Thomas Stuber seine Milieustudie genannt, die die ARD zum Auftakt ihrer diesjährigen Reihe "Filmdebüt im Ersten" ausstrahlt. Das im Kino mit gut 5.000 Zuschauern praktisch kaum wahrgenommene Porträt, eine Koproduktion von MDR, Arte und HR, ist von einer Intensität, wie sie in den Eigenproduktionen der TV-Sender Seltenheitswert hat. Das liegt vor allem an Hauptdarsteller Peter Kurth und der Kameraarbeit von Peter Matjasko, der Herbert nicht von der Seite weicht. Kurth dominiert diesen Film mit einer Präsenz, die kaum in Worte zu fassen ist, weshalb sich der schleichende Verfall des ehemaligen Boxers umso stärker nachvollziehen lässt. Dabei verzichtet Stuber, der das Drehbuch gemeinsam mit Clemens Meyer geschrieben hat (Vorlage: Paul Salisbury), auf sämtliche Sentimentalitäten.

Es vergeht ohnehin fast die Hälfte der Filmzeit, bis die Autoren die Katze aus dem Sack lassen. In der ersten Dreiviertelstunde beschränkt sich Stuber darauf, episodische Schlaglichter auf Herberts überschaubares Dasein zu werfen: Schulden eintreiben, auf einen Boxsack einprügeln, Training mit dem hoffnungsvollen Boxtalent Eddy (Edin Hasanovic). Die Kamera ist immer ganz nah dran am Geschehen, bleibt emotional jedoch auf Distanz, was dem Film einen dokumentarischen Anstrich gibt. Manchmal schaut Matjasko Herbert auch nur dabei zu, wie er die Fische in seinem Aquarium beobachtet. Kurth verkörpert die wortkarge Halbweltfigur ohnehin schnörkellos und ungerührt. Das Zwielicht tut ein Übriges, um Identifikationsambitionen gar nicht erst aufkommen zu lassen. Daran ändern auch erste Irritationen zunächst nichts, als Herbert nach einem Training unter der Dusche zusammenbricht. Größere Risse bekommt die Fassade beim Besuch seines Freundes und Tätowierers Specht (Reiner Schöne). Die beiden schwärmen davon, irgendwann mal mit Harleys über die Route 66 zu fahren. Stuber braucht in diesem Moment überhaupt nicht anzudeuten, dass daraus nichts wird, denn jeder weiß: Wenn harte Kerle im Film über ihre Träume sprechen, sind sie praktisch schon dem Tod geweiht. Nach einem weiteren Kollaps kommt Herbert ins Krankenhaus. Wie schon zuvor beim Boxkampf, den Eddy auf skandalöse Weise nach Punkten verliert, bedient sich Stuber einer ebenso einfachen wie effektiven Methode. Die Geräusche werden vollständig ausgeblendet, stattdessen erklingt sanfte Musik, die in klarem Kontrast zu den Bildern steht: hier die beiden Kämpfer (die Kamera bleibt außerhalb des Rings), dort Herbert in der Klinik, der von zwei Pflegern unsanft in einen Rollstuhl genötigt wird. Anschließend baut er rapide ab; Schritte und Sprechweise werden immer schleppender. Als er den Müll wegbringt, filmt die Kamera seinen Schatten, eine angesichts der sonstigen Zurückhaltung des Films fast schon überdeutliche Botschaft: Herbert ist nur noch ein Schatten seiner selbst. Ähnlich wirkungsvoll ist die Verzögerung der Information, woran Herbert leidet. Das verrät Stuber erst, als sein Antiheld den Betreiber eines Internetcafés (ein winziger Gastauftritt für Kida Khodr Ramadan) um Hilfe bittet und ihm die drei Buchstaben aufschreibt, über die er mehr erfahren möchte: ALS.

Beinahe selbstverständlich wird die Welt, in der Herbert lebt, von Männern dominiert; dritte wichtige Figur neben Eddy und Specht ist Bodo (Udo Kroschwald), für den er die Schulden eintreibt. Der hat jedoch für einen wie ihn keine Verwendung mehr; mit Gehstock hat Herbert jeden Schrecken verloren, selbst wenn seine Kraft noch reicht, um den Ex-Stecher seiner Tochter zu verprügeln. Sandra (Lena Lauzemis) und seine Freundin Marlene (Lina Wendel) sind die einzigen Frauen im Film, weshalb ihnen naturgemäß eine besondere Bedeutung zukommt. Sandra will nichts mehr mit ihrem Vater zu tun haben, weil sie sich im Stich gelassen fühlt, seit Herbert einst in den Knast musste, als sie sechs war. Dass er Großvater ist, erfährt er nur durch das selbstgebastelte Schild an ihrer Wohnungstür; und natürlich möchte er einen Teil der wenigen Zeit, die ihm noch bleibt, mit seiner Enkelin verbringen. Marlene wiederum wird von ihm nur widerwillig als Freundin geduldet. Wer Lina Wendel nur aus der ARD-Krimireihe "Die Füchsin" kennt, wird die enorm wandlungsfähige Schauspielerin kaum wiedererkennen.

Natürlich unterscheidet sich der Film in vielerlei Hinsicht von den Produktionen, die das "Erste" um 20.15 Uhr zeigt: Keiner der Darsteller findet sich auf der Liste der üblichen Fernsehgesichter, viele Szenen spielen im Halbdunkel, die Dialogarmut ist ebenfalls fernsehuntypisch, eine frontale Nacktszene mit einer über fünfzig Jahre alten Schauspielerin ist zur Hauptsendezeit fast undenkbar; aber selbstverständlich sind das alles Aspekte, die nicht gegen, sondern für den Film sprechen. Die Schwarzblenden, mit denen Stuber die Kapitel voneinander trennt, sind ohnehin sympathischer als die stereotypen Stadt- oder Landschaftsbilder, die diesen Zweck im Fernsehfilm erfüllen. Sicherlich macht es Stuber seinem Publikum anfangs nicht leicht, aber nach der in jeder Hinsicht düsteren ersten Hälfte öffnen sich beide, das Drama wie auch seine Hauptfigur. In der beschwingtesten Szene des Films brausen Herbert und Specht auf dem Elektrorollstuhl des mittlerweile schwer gezeichneten Ex-Boxers nach einem feuchtfröhlichen Abend durch die Nacht, und zu den berührendsten Szenen gehören eine genuschelte Nachricht, die Herbert auf Sandras Anrufbeantworter hinterlässt, sowie der Moment, als sie und ihre Tochter seiner auf Kassette aufgenommenen Abschiedsbotschaft lauschen. Den Abgang gewährt Stuber ihm dort, wo jeder Boxer abtreten will.

Beim Deutschen Filmpreis 2016 erhielt der Film die Auszeichnung "Bester Spielfilm in Silber". Peter Kurth wurde für die "Beste männliche Hauptrolle" geehrt und Hanna Hackbeil für das "Beste Maskenbild". Nominiert waren zudem Peter Matjasko ("Beste Kamera/Bildgestaltung") und Lina Wendel ("Beste weibliche Nebenrolle"). Umso bedauerlicher, dass die ARD die Debütfilme erst am späten Abend zeigt. Dabei hat "Herbert" mit der Sendezeit um 22.45 Uhr sogar noch Glück; andere starten erst nach 1 Uhr.