Raststätte und Oase der Ruhe

Pfarrer Ulf Machert
Foto: Dieter Dehler
Pfarrer Ulf Machert zeigt das Anliegenbuch in der Autobahnkirche Medenbach.
Raststätte und Oase der Ruhe
Die Autobahnkirche an der A3 neben der Raststätte Wiesbaden-Medenbach
Kirchen sind Orte der Einkehr, Ruhe und Meditation - auch dann, wenn sie wie die Autobahnkirche Wiesbaden-Medenbach direkt neben der A3 liegen. Als Hausherr einer solchen Kirche hat Pfarrer Ulf Machert schon viel Schönes, aber auch Trauriges und Enttäuschendes erlebt.

Schön ist sie nicht, die erste Annäherung an das hohe rote Backsteingebäude neben der Raststätte Wiesbaden-Medenbach an der A3. Schon von weitem entdeckt Pfarrer Ulf Machert einen Mann, der neben der Mauer uriniert. Dabei ist das Bauwerk nicht irgendeines, sondern eine von derzeit 44 Autobahnkirchen in Deutschland. Als Pfarrer der evangelischen Gemeinde Medenbach ist Machert hier der Hausherr, doch es schlagen zwei Herzen in seiner Brust. Einerseits ist er stolz auf diesen ungewöhnlichen Gottesraum, der 24 Stunden täglich offen und "für viele Leute eine Oase der Ruhe" abseits der hektischen Verkehrsströme ist. Doch er sieht auch die Belastung für die gerade mal tausend Mitglieder seiner kleinen Gemeinde. "Das ist eine schöne Sache, aber nicht direkt eine Bereicherung der Kirchengemeinde".

Deren Zentrum verbirgt sich im Ortskern hinter den Toren einer Hofreite – die wurde den Christen gestiftet. Gerade erst hat eine Küsterin gekündigt. Die Suche nach ehrenamtlichen Helfern werde immer schwerer, klagt Machert. Auch deswegen, paradoxerweise, ist die Medenbacher Autobahnkirche niemals geschlossen. Zwar gibt es dort vorsorglich ein Türgitter – aber es bräuchte dann auch Helfer, die es jeden Tag auf- und zuschließen. Bislang genügt eine Videoüberwachung, "damit ist der Vandalismus deutlich zurückgegangen", freut sich der Pfarrer. Eine Schließung sei mittlerweile nicht mehr im Gespräch, dennoch soll demnächst im Kirchenvorstand erneut über das Thema Öffnungszeiten diskutiert werden.

Die erste hessische Autobahnkirche an der Tank- und Rastanlage Wiesbaden-Medenbach bei ihrer Einweihung im März 2001.

So haben die Besucher Glück. Direkt neben dem Parkplatz der Tankstelle führt sie der Weg zunächst zu einem Arkadengang. Welke Blätter wehen dort, wo im Sommer neun Wassersprudler eine natürliche Klangkulisse zu den Autobahngeräuschen bilden. Im Innern der Kirche schweift der Blick sogleich nach oben – bis zu vierzehn Meter hoch ist das schräge, blau getönte Glasdach, das den Andachtsraum in helles Licht taucht – transparent und transzendent zugleich. "Nicht düster und weltabgewandt" solle der Raum wirken, heißt es bereits in der Architekturbeschreibung auf der Internetseite der Autobahnkirche.

Der nur 81 Quadratmeter große Kirchenraum strahlt durch seine lichte Höhe eine große Ruhe aus. Vieles erinnert an klassische Gotteshäuser – und doch ist es ganz anders. Es gibt zwar gleich zwei Kreuzzeichen in dieser ökumenischen Kapelle – aber erst Machert lenkt den Blick auf sie. Da sind die Tafeln hinter dem steinernen Altar. Ihr Zwischenabstand symbolisiert das Kruzifix – ebenso die vier Löcher in dem Altar, einem Gesteinsblock, den zwei Blumenvasen zieren. 26 Holzstühle stehen davor. Nachdem einer gestohlen wurde, sind sie mit Eisenstangen gesichert.

###galerie|3984|Autobahnkirchen: Ruhe statt Reisestress###

Ein älterer Herr kommt herein, nimmt Platz. In Gedanken versunken, senkt er den Kopf, schließt seine Augen – mehrere Minuten lang. Dann geht er zu dem Regal mit den Kerzen, zündet eine an. "Ich war schon öfters hier", sagt der 56-jährige Wiesbadener, "immer wenn mich etwas innerlich bewegt." Er erlebt diese Kirche als Ort der Meditation. Anders als die klassischen Kirchen stehe sie zu jeder Zeit offen. "Und gerade diese Einfachheit, das macht es aus", sagt er. Wenn er eine Kerze für verstorbene oder noch lebende Familienmitglieder anzünde, sei er immer alleine hier.

Doch der Eindruck der Abgeschiedenheit trügt. Über den Kerzenverkauf hat Pfarrer Machert eine Schätzung gemacht, wie viele Besucher jährlich zu der Autobahnkirche kommen. 44.000 seien es im vergangenen Jahr gewesen, ein Tiefstand gegenüber den Vorjahren.

Kerzen in der Autobahnkirche Medenbach.

Dann blättert er das Anliegenbuch auf – das inzwischen schon 40. Exemplar seit Eröffnung der Kirche im März 2001. Um die Weihnachtstage haben Besucher innerhalb eines Monats über 60 Seiten gefüllt mit Eindrücken, die zeigen, wie tief die Spiritualität auch unter Nicht-Kirchgängern ist und was sie bewegt.

Kinder haben auf die Seiten einen Tannenbaum mit Schneefrau gemalt. Ein Anonymus schreibt: "Und wieder habe ich versäumt, zu dir zu kommen Verzeih mir? DANKE!" Ein anderer erzählt: "Wie oft werde ich die A3 noch fahren, um immer einen Abstecher zu dieser kleinen Kirche zu machen? Wie viele Krankenhausbesuche? Wie viele Chemotherapien, wie viele OPs? Hat sie wirklich eine Chance gesund zu werden? Bitte gib uns Kraft, das durchzuhalten."

Der Andachtsraum mit dem Kreuzzeichen dem hinter dem steinernen Altar.

Einen besonderen Moment schildert eine Frau namens Susanne: "Hinter mir sitzt ein alter Mann auf einem Gebetsteppich und murmelt Worte, die ich nicht verstehe. Selten habe ich Gott so sehr hier gespürt, wie heute. Egal, wie er heißt – wir hoffen alle das Gleiche."  So wird diese Autobahnkirche auch zur Raststätte, zum Ort, um die Seele aufzutanken. Ein Boxenstopp ohne biblischen Ballast. "Guter Gott, wieder einmal unterwegs. Eine lange Strecke hinter mir und vor mir", schreibt jemand: "Und auch diesmal hast du mich und meine Familie behütet. Ich danke dir von ganzem Herzen dafür." Auch etliche Niederländer und Polen haben Notizen hinterlassen. Viele Fernfahrer sind darunter, weiß Machert. Einmal habe es in der Kirche sogar eine Trucker-Hochzeit gegeben, erinnert er sich. Aber es gab auch einen tragischen Vorfall vor drei, vier Jahren. Ein Pole habe seinen Lkw an der gegenüberliegenden Raststätte geparkt und sei beim Überqueren der Fahrbahn tödlich verletzt worden.

Aus dem Anliegenbuch stammen auch die Fürbitten, wenn von März bis Dezember jeweils am dritten Mittwoch im Monat um 19 Uhr halbstündige Andachten mit mobiler Orgel gefeiert werden. Einmal hielt Thorsten Heinrich, der EKHN-Beauftragter für Motorradfahrerseelsorge, die Andacht und brachte so viele seiner Bikerfreunde mit, dass es 600 Euro an Spenden gab, erinnert sich Machert. Am Buß- und Bettag war ein Notfallseelsorger zu Gast. Zu diesen Andachten kämen aber vor allem Medenbacher und Wiesbadener. Einmal im Jahr aber, zum Tag der Autobahnkirchen, feiert dort die ganze örtliche Kirchengemeinde mit Bläserchor, Kaffee und Kuchen.

Entstanden ist die Medenbacher Autobahnkirche übrigens relativ spät – erst 2001. Die erste wurde bereits 1958 im bayrischen Adelsried gebaut. Der Stifter Alfred Weigle brachte dafür eine Million D-Mark auf. Das Gebäude sollte, nach dem Vorbild der Baden-Badener Autobahnkirche eine "Oase der Ruhe und Besinnlichkeit" sein "für alle Menschen, die der Hast des Alltags entfliehen und im stillen Gebet Frieden finden wollen", verrät eine Gedenktafel. Und draußen tost weiter der Fernverkehr wie eine leise Brandung.