Der Schlüssel

Foto: Nancy Borowick
Howie und Laurel Borowick umarmen sich zuhause in ihrem Schlafzimmer in Chappaqua, New York, im März 2013.
Der Schlüssel
Nancy Borowick hat ihre krebskranken Eltern fotografiert und sie bis in den Tod mit der Kamera begleitet. Sie hat dafür einen Preis beim World Press Photo Award gewonnen. Viel wichtiger aber: Sie hat etwas Entscheidendes über das Leben und die Liebe gelernt.

Diagnose

Ein Café in New York. Es ist im Dezember 2012. Die 26-Jährige Fotografin Nancy Borowick und ihr Verlobter sind zum Abendessen mit ihren Eltern verabredet. Nancy ist nervös. Bei ihrer Mutter wurde im Jahr zuvor zum dritten Mal im Verlauf von 18 Jahren Brustkrebs festgestellt. Nancy ist sich sicher, dass ihre Eltern ihr an diesem Abend mitteilen werden, dass es der Mutter schlechter geht. Dass sie sterben wird. Doch es geht nicht um die Mutter. Es ist ihr Vater. Man hat Bauchspeicheldrüsenkrebs bei ihm diagnostiziert. Inoperabel. Unheilbar. Ein Todesurteil. Nancy: "Meine Mutter war doch die Kranke, mein Vater der Gesunde. Das alles machte keinen Sinn." Manchmal schlägt das Leben mit aller Härte zu.

Mut

Ein paar Tage nach diesem Abendessen kommt die Mutter, Laurel, auf das mittlere ihrer drei Kinder zu: "Dad fragt, ob Du ihn fotografieren und seine Geschichte erzählen möchtest." So fängt es an. Nancy hat schon einmal ihre Mutter fotografiert. Das war 2009 nach der zweiten Krebs-Diagnose. Sie war damals an der Universität und studierte Fotografie. Nancy: "Mom wollte nie nur auf ihre Krankheit reduziert werden. Der Krebs war auch nur ein weiterer Punkt auf ihrer To-Do-List, den es abzuarbeiten galt." Das Projekt ermöglichte ihr, sich voll und ganz auf ihre Mutter zu konzentrieren und Zeit mit ihr zu verbringen. Und jetzt wieder. Aber dieses mal mit ihrem Vater im Fokus.

Die Eltern sind in dieser Zeit immer Seite an Seite. Wenn sie im Badezimmer des elterlichen Hauses telefonisch ihre Werte erfragen, auf den Autofahrten zur Chemotherapie aber auch bei den Vorbereitungen zu Nancys Hochzeit oder im Urlaub. Die Kamera ist immer dabei und eines wird Nancy schnell bewusst: Es ist keine Geschichte nur über den Krebs. Eine von Krankheit, sicher, aber auch eine von Liebe und von Mut. Vom Leben, wie es nun einmal ist, mit diesen großartigen Glücksmomenten und diesen unwägbaren Tiefen.

Liebe

Nancy und ihre Geschwister wachsen in Chappaqua auf, einem kleinem Ort in Westchester County, 65 Kilometer entfernt von New York. Vor allem anderen bringen die Eltern, Laurel und Howie, ihren drei Kindern bei, Fragen zu stellen. Vielleicht liegt es daran, dass beide als Anwälte arbeiten, in deren Natur es liegt, nachzuhaken, bei denen, die sie verteidigen. Bei den Borowicks wird zu Hause über alles gesprochen. Es gibt keine Tabus. 34 Jahre dauert die Liebe der Eltern, von der ersten Verabredung bis zum Tod. Nancy: "Mom und Dad hatten diese großartige Fähigkeit zur Liebe, zur Freude und zum Abenteuer." Eine Fähigkeit zur Liebe. Hier schwingt mit, was Liebe in ihrem Kern doch wirklich bedeutet. Es ist so viel mehr, als nur ein Gefühl. Es ist eine Tätigkeit. In guten wie in schlechten Zeiten. Besonders in schlechten Zeiten. Jedes einzelne Bild, dass Nancy von ihren Eltern gemeinsam in der Zeit vor ihrem Tod macht, zeigt diese kleinen Gesten der Liebe. Ein Lächeln, eine Berührung, ein gegenseitiges Halten.

Nancy

"Ich war immer eine Geschichtenerzählerin. Ich war die, die mit dem fremden Sitznachbarn im Flugzeug ein Gespräch angefangen hat." Als Schulkind kennt sie all die kleinen und großen Geheimnisse ihrer Mitschüler, will alles wissen. Einmal ruft die Lehrerin bei ihren Eltern an und sagt, dass Nancys ausgeprägter Gerechtigkeitssinn etwas problematisch für ihre Mitschüler sei. Vielleicht ist es eine logische Konsequenz, dass sie Dokumentar-Fotografin wird. Nicht schweigen, sondern zeigen. Auch dann, wenn es weh tut. Auch dann, wenn es die eigenen Eltern sind. Ist sie Tochter? Ist sie Zeugin? "Anwältin", sagt Nancy. "Ich wurde zur Anwältin von Mom und Dad."

Nancy Borowick in ihrer Ausstellung in Berlin im April 2017.

Eines muss klar sein, sagt sie zu ihnen, ihr müsst offen sein, transparent. Alles was Euch die Ärzte sagen, muss ich wissen. Ab dann ist sie immer dabei. Tausende Bilder mit dabei. Nancy sagt, es fühlte sich natürlich an. Sie habe die Welt in den Jahren zuvor immer durch ihre Kamera gesehen und begriffen. Doch es ist auch eine Gratwanderung. Sie kommt durch die Distanz ihren Eltern auf eine Art und Weise nah, wie ein Journalist seinem unbekannten Interviewpartner, den er ohne Scheu befragt. Nancy lernt so diese zwei Menschen noch einmal anders und auch tiefer kennen. Als Individuen, als Laurel und Howie, und als Paar, weil sie nicht den Blickwinkel einer Tochter einnimmt, die dabei ist ihre Eltern zu verlieren, sondern den einer Fotojournalistin, die das unsagbare zeigen will. Das Klicken des Apparates wird dabei – fast unbemerkt – zu ihrem eigenen lebensspendenden Herzschlag.

Sterben

Zweimal funktioniert dieser Herzschlag nicht. Es gibt ein Foto, auf dem sie selbst zu sehen ist, wie sie in einem Krankenhausbett liegt. Kurz vorher ist sie ohnmächtig geworden. Eigentlich eine ganz normale Situation, sagt sie. Hunderte von Bildern habe sie in dem Krankenhaus von ihrem Vater gemacht. Irgendwann denkt sie, sie hätte genug. Sie legt die Kamera zur Seite und beobachtet die Krankenschwester dabei, wie sie ihrem Vater eine Kanüle legt. Dann wird alles schwarz. Was war anders? Ohne Kamera hatte sie keinen Filter mehr. "Da war nur noch die Realität. Ich werde meine Eltern verlieren."

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Die zweite Situation beschreibt sie mit einem der letzten Fotos ihrer Mutter. Der Vater ist zu diesem Zeitpunkt bereits seit einem Jahr tot. Laurel ist zum Sterben nach Hause gekommen. Im Kreis ihrer Familie liegt sie im Bett. "Meine Mutter war gefühlt mein ganzes Leben krank und ich dachte vielleicht ist es einfach so, dass sie eben für immer krank bleibt. Aber irgendwann war klar, sie wird sterben." Nancy fotografiert noch. Aber wenig. Zu diesem Zeitpunkt spürt sie eine immer größer werdende Distanz. An dem Tag, als ihre Mutter stirbt, macht sie genau vier Fotos. Das Atmen der Mutter. Ein. Aus. Ein. Aus. Der Brustkorb hebt sich und senkt sich wieder. Viel Körper, wenig Mom. So ist es jemanden gehen zu sehen. "Wir standen um sie herum, starrten auf ihren Brustkorb, dann schauten wir uns an, um zu sehen, wie es uns geht und ich glaube in diesem Moment hörte sie auf zu atmen."

Abschied

Laurel und Howie sterben fast auf den Tag genau ein Jahr nacheinander. "Es muss einen Sinn haben, dass sie beide krank geworden sind und dass sie so gegangen sind, wie sie es eben getan haben", sagt Nancy. Die Borowicks sind jüdisch. Nicht orthodox, aber kulturell geprägt. Nancys Vater ging in die Synagoge, seit er als Kind beide Eltern an den Krebs verloren hatte. Mit 15 Jahren war er Vollweise. Leben bedeutet immer auch Abschied nehmen. Aber es ist auch kostbar. Das lernten die Borowicks früh. Nancys Mutter sagte immer: "You're not promised tomorrow." Du weißt nicht, was morgen ist. Nutze den Tag. Wie anders soll man beschreiben, wie diese Familie mit der Diagnose umgegangen ist. Wir alle müssen diese Erde irgendwann verlassen, aber wir bestimmen selbst, wie wir es tun. Nancy: "Was glaubst du Dad, werden die Leute auf deiner Beerdigung über dich sagen?" Howie: "Ich weiß, was sie sagen werden, denn ich habe die Trauerrede selbst geschrieben."

Die Rede war 14 Seiten lang. Auf dem Foto, das ihn im Sarg zeigt, sieht man ihn in seinem Lieblingssportdress. Das passte zu ihm und seinem Humor. Laurel bestand darauf, dass ihre Familie die jüdischen Beerdingsrituale so gestalten solle, wie es für sie schön und tröstend sei. Und so saßen Familie und Freunde sieben Tage Schiwa, die Trauerzeit im Judentum. Die Grabsteinlegung, die traditionell ein Jahr nach dem Tod stattfindet, fand für beide Eltern ganz unorthodox zum selben Zeitpunkt statt, da Laurel eben genau ein Jahr nachdem Howie gestorben war. Am Grab der beiden teilten die Gäste Erinnerungen an die Geliebten und jeder brachte, wie es das jüdische Ritual vorschreibt, einen Stein mit. Die Steine kamen von Orten, an denen Laurel und Howie gelebt haben und glücklich waren. Während man am Grab vorbeigeht, bleibt man traditionell sieben mal stehen. Jedes Innehalten drückt das Zögern aus, den geliebten Menschen gehen zu lassen. Nancy: "Doch, du gehst weiter, weil du weißt, du musst. So ist das Leben. Abschied gehört immer dazu."

Leben

Monate nach der Beerdigung des Vaters gewinnt Nancy einen Preis beim World Press Photo Award. Zu diesem Zweck geht sie noch einmal durch das Rohmaterial ihrer Fotoserie. Sie sieht das Bild ihres Vaters im Sarg. Und plötzlich bricht sie zusammen. Warum jetzt, nach der langen Zeit? Sie hatte das Foto tausendmal gesehen. Ihr wird klar, dass das letzte Mal, dass sie ihren Vater in Farbe gesehen hatte, der Moment selbst war, als sie das Foto schoss. Die Wirklichkeit ist nicht schwarz-weiß, so wie Nancys Fotografien aus dieser Zeit. Sie ist bunt, sie bringt einen zum Weinen und zum Lachen.

Ob sie Angst vor Krebs hat und vor dem Tod, das wird Nancy jetzt oft gefragt. Keine Angst. Nicht mehr. Sie hindere uns Menschen nur daran die wirklich wichtigen Fragen zu stellen. An uns und an die, die wir lieben. Aus den Fotografien ihrer Eltern ist ein Buch entstanden. Schlägt der Leser es auf, ist das erste, was er sieht, das Bild eines abgebrochenen kleinen Schlüssels. Nancy fand ihn beim Aufräumen des Elternhauses nach ihrem Tod. Zu spät, um zu fragen, wozu er gehört. Nun ist er ein Symbol für Nancy selbst und für alle, die das Buch zur Hand nehmen, dieses wunderbare Geschenk des Lebens sinnvoll zu nutzen.

"Mom war 59, Dad war 58. Ihr Tod war ein Weckruf für mich. You're not promised tomorrow. Mein Ehemann und ich haben in New York immer viel gearbeitet. Einen Tag nach der Grabsteinlegung für meine Eltern sind wir nach Guam gezogen. Auf eine Insel mitten im Pazifik. Dad sagte immer, suche nach mir in den Sonnenaufgängen und Mom sagte, ich würde sie im Nachthimmel finden. Die Sonnenaufgänge und die Nächte sind in Guam wunderschön."