In Europa fressen dich die Raben

Foto: dpa/Frank Leonhardt
In Europa fressen dich die Raben
Welche evangelischen Impulse kann die EKD-Synode den Mitgliedern ihrer Kirche für Europa mitgeben? Die Kundgebung zum Schwerpunkt des diesjährigen Synodenthemas setzt darauf, dass sich Christinnen und Christen über ihren Glauben für ein solidarisches Europa zusammenfinden.

Den Anfang machte ein Kinderreim, den schon die Kleinsten kennenlernen. Die schwedische Erzbischöfin Antje Jackelén trug ihn der Synode vor: "Hoppe, hoppe Reiter, wenn er fällt, dann schreit er, fällt er in den Graben, fressen ihn die Raben." Damit bereite man seine Kinder spielerisch auf die Gefahren des Lebens vor, so Antje Jackelén.

Doch für Christinnen und Christen solle dieser Kinderreim eigentlich heißen: "Wenn er fällt, dann ins Taufwasser. Nach Martin Luther sollten wir immer wieder neu in die Taufe kriechen. Und daraus mit neuem Blick auf uns selbst hervorkommen", führte Jackelén aus. Christen dürften es nicht zulassen, dass jemand von Raben gefressen werde. "In Europa liegen sie am Straßenrand. Alleingelassen. Unter die Räuber gefallen." Sie - die Brüder und Schwestern des Mannes, den der Samariter rettete. Im Jahr 2015, im Jahr 2016 und wie lange werden die Europäer sich vor den Hilfesuchenden noch versuchen abzuschotten?

"Wir brauchen die 'Anderen', sie machen uns menschlich"

Im Vorwort des Kundgebungsentwurfes zum Schwerpunkt-Thema der Synode heißt es: "Tu das, so wirst du leben" (Lukas 10,28) - dies sei die Zusage Gottes an alle, die ihre Nächsten lieben. "Wie der Mann aus Samaria, der einen unter die Räuber Gefallenen nicht gleichgültig liegen lässt." Dieses Gleichnis Jesu erzwinge den Perspektivwechsel, es zeige die Welt aus dem Graben heraus, sagte Antje Jackelén. Denn wir seien alle "radikal bedürftig und voneinander abhängig". 

Für ein solidarisches Europa sei dieser ständige Perspektivwechsel nötig: "Die 'Anderen' nennen wir die, die im Graben liegen. Und wir selbst sind mit unseren Smartphones beschäftigt und haben gute und schlechte Gründe nicht zu helfen." Doch wir sollten nicht vergessen, dass auch wir es seien, die im Graben landen können. "Wir brauchen die Fremden, die Anderen. Wenn wir einsehen, dass wir die Samariter unserer Zeit brauchen, werden wir menschlich."

Die christliche Grundlage für ein solidarisches Europa sei deshalb: Der Mensch habe eine unhintergehbare Würde. Auch die Reformation als Weltbürgerin verpflichte dazu, Grenzen zu überwinden, führte der Militärhistoriker Matthias Rogg aus, Oberst der Bundeswehr und Vorsitzender des synodalen Vorbereitungsausschusses des diesjährigen Schwerpunktthemas.

"Jenseits des diakonischen Auftrags darf die menschliche Solidarität nicht an nationalen, an ethnischen und kulturellen Grenzen haltmachen", sagte Rogg. Die Aufgabe innerhalb der christlichen Gemeinschaft sei es deshalb, die Ökumene zu fördern. Sie sei der Lackmustest dafür, ob die Kirchen in Europa ihre Zusage barmherzig und gerecht zu sein, sowie ihre Nächsten zu lieben, halten könnten. "Wir müssen den interkonfessionellen und interreligiösen Dialog fortführen. Gegen gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit, gegen Nationalismus. Auch dort, wo es uns nicht gefällt, müssen wir den Dialog weiterführen", sagte Rogg.

Der Auftrag "So sollst du leben" begrenze sich nicht auf die Kirchen, sagte Pastorin Anne Gidion, Direktorin des Pastoralkollegs der Nordkirche und stellvertretende Vorsitzende des Vorbereitungsausschusses. Von der Politik wolle die Synode deshalb fordern, dass sie für sichere und legale Fluchtwege in die EU sorgen müsse, dass sie die Entwicklungszusammenarbeit als zentrale Achse der Sicherheitspolitik weiter fördere, dass sie strategische Partnerschaften für ein solidarisches Europa eingehe.

"Die Kirchen spielen für den Zusammenhalt in Europa eine wichtige Rolle, eine Demokratie muss mit lebendigen Werten gefüttert werden", sagte Erzbischöfin Antje Jackelén.

"Das Christentum in Europa erlebe ich derzeit nicht als verbindend"

Doch innerhalb der Kirchen in Europa bleibt bisher offen, wem die christliche Nächstenliebe zuteilwerden soll. Dem Fremden, dem Flüchtling, wie im Gleichnis? Der Staatsminister für Europa im Auswärtigen Amt, Michael Roth (SPD), wurde am Montagmorgen sehr deutlich: Er erlebe "das Christentum in Europa derzeit nicht als etwas Verbindendes, sondern als das Gegenteil", sagte er - und forderte die Christen dazu auf, dagegen aufzustehen, wenn Politiker sagten, sie wollten Flüchtlinge nicht aufnehmen, weil sie keine Christen sind.

Doch es gibt auch Kirchen in Europa, zum Beispiel in Polen und Ungarn, die Flüchtlinge, vor allem muslimische, ablehnen. Wie soll man mit ihnen, wie mit den Staaten innerhalb der EU, die sich nicht an Verabredungen halten, umgehen? Die meisten Kirchenleute in Magdeburg tendieren zum Reden. Wie Frère Alois, Prior der ökumenischen Bruderschaft von Taizé, der von seinen guten Erfahrungen mit Begegnungen zwischen Jugendlichen aus vielen Ländern berichtete. Die Synodale und Vorsitzende der Grünen-Bundestagsfraktion, Katrin Göring-Eckardt, hingegen sagte: "Wir machen zu wenig Druck und kümmern uns zu wenig darum."

Den Populisten nicht die Köpfe und Herzen überlassen

Auch in eigener Sache sind Kirchenmitglieder in der Definition von Barmherzigkeit und Nächstenliebe uneins: Die Kirche wisse, dass auch in den eigenen Gemeinden Vorurteile und Menschenfeindlichkeit "verbreitet sind", heißt es im Kundgebungsentwurf. Gegenüber "populistischer Angstmache und rechter Hetze" beziehe die Kirche "klar Position". Sie sei aber auch bereit, mit Menschen zu reden, die die europäische Integration ablehnten, Angst hätten oder mutlos seien. "Wir müssen im Dialog stehen", sagte Matthias Rogg. Die Kirchen "überlassen den Rechten und Populisten nicht die Köpfe und Herzen derer, die aus Verunsicherung nach einfachen Antworten suchen".

Einig sind sich fast alle, Politiker und Kirchenleute, dass zwar nicht Europa, aber die Europäische Union für ein großes Friedensprojekt steht. Ein klares friedenspolitisches Leitbild, "dass Krieg keine Option ist", forderte der badische Synodale Manfred Froese vehement. Der Ratsvorsitzende Heinrich Bedford-Strohm hingegen bekannte sich in dieser Frage zu seinem "zerrissenen Herzen". Denn er sei auch froh, wenn die Menschen in die zurückeroberten Dörfer bei Mossul zurückkehren könnten. "Der IS geht nicht freiwillig."

Im August hatte der Ratsvorsitzende auf Sardinien ein Bundeswehrschiff besucht, das innerhalb eines Kampfeinsatzes für die EU im Mittelmeer Schlepper bekämpfen soll und schon viele Flüchtlinge aus Seenot gerettet hat. Er dankte den Soldaten für ihren "Samariterdienst" - und bezeichnete das Militärschiff als Samariterboot.

Heinrich Bedford-Strohm, Ratsvorsitzender der EKD, erklärt im Interview mit evangelisch.de-Redakteur Markus Bechtold seine Vorstellung eines solidarischen Europas.