Das Vaterunser kann man erleben

Junge Menschen im Dunklen beten gemeinsam.
© Papaioannou Kostas/Unsplash
Ein besonderes Gebet
Das Vaterunser kann man erleben
Jeder Christ sollte es lernen und sprechen können, und in keinem Gottesdienst sollte es fehlen: Das Vaterunser. Aber was ist das Besondere an diesem Gebet? Wie aktuell kann es nach 2000 Jahren noch sein? Und was macht es zu mehr als zu einer Formel? Anlässlich eines gemeinsamen Gottesdienstes der Gemeinden Büsum und Meldorf zum Vaterunser sprachen wir mit Pastorin Brinkmann und Pastor Boysen über ihre Liebe zu diesem besonderen Gebet.

Das Vaterunser ist ein gelerntes Gebet. Man könnte also sagen, dass es kein persönliches Gebet ist. Warum ist es trotzdem ein gutes?

Heiko Boysen: Es ist kein freies, aber dennoch ein persönliches Gebet. Ein freies Gebet setzt voraus, dass ich Gebetspraxis habe. Dass ich mich eingeübt habe in das Beten. Dann bin ich eher in der Lage, auch mit eigenen Worten zu beten. Beim Vaterunser habe ich die große Chance, mir für mein eigenes Beten Worte zu leihen, wenn mir keine eigenen Worte einfallen. Ich bediene mich sozusagen einer anderen Sprache gebe mich in diese Sprache mit meinem eigenen Leben hinein. Das Vaterunser ist so allgemein formuliert, dass jeder mit seinem Leben darin vorkommt. Ob jung, ob alt, ob gesund, ob krank, ob glücklich, ob unglücklich, ob himmelhochjauchzend oder zu Tode betrübt, jeder findet sich da wieder mit seinen ganz eigenen Anliegen.

Das klingt ein wenig, als wäre das Vaterunser eher was für Gebetsanfänger. Profis beten mit eigenen Worten, und Anfänger bedienen sich erstmal des Vaterunsers bis sie es so geübt haben.

Heiko Boysen: Nein, wir sind letztlich immer wieder Anfänger. Es gibt Situationen, in denen mir ganz spontan Worte einfallen, bei denen ich merke: Genau das ist es jetzt, was ich im Gebet ausdrücken möchte, und dann habe ich dafür Worte, und es gibt Situationen, in denen ich froh bin, auf Worte zurückgreifen zu können, auch im Bewusstsein, dass das viele Tausende vor mir gebetet haben und damit gute Erfahrungen gemacht haben. Das Vaterunser verbindet mich mit unzählig vielen Menschen in aller Welt. Auch wenn ich irgendwo im Urlaub, im Ausland, sonst wo bin, begegnet mir das Vaterunser.

Wenn man das Vaterunser doch so häufig spricht, jeden Sonntag im Gottesdienst, gerne auch als persönliches Gebet, wie kann man vermeiden, dass man nur noch die Worte herunterredet. Wie kann man es schaffen, dass man es wirklich auch meint, was man da sagt?

Ina Brinkmann: Das Vaterunser ist ja für viele Lebenslagen gut. Und ich würde es niemals jemandem absprechen, dass er es auch so meint, auch wenn er mal nicht bei der Sache ist. Ein Weiteres ist: Die Themen, die Aspekte, die in den verschiedenen Sätzen, in den verschiedenen Bitten des Vaterunsers vorkommen, docken in der jeweiligen Lebenssituation aktuell immer anders an. Irgendein Vers wird wohl auch gerade in dem Moment stimmen. Wenn ich es allein bete, gehe ich ja nochmal bewusst auch in eine Konzentration mit mir selber, in eine Zwiesprache mit Gott. Schon dieser Moment, diese Absicht macht die Intensität oder die Stärke dieses Gebetes aus. Wenn ich es in Gemeinschaft mit anderen spreche, merke ich auch, dass mich der gleiche Ton, der Chor mit den anderen trägt. Auch wenn die Worte gerade im Moment vielleicht nicht so bedeutsam für mich sind. Alles ist hilfreich für mein Leben, für die aktuelle Krise, für die aktuelle Freude, für das Lob, für den Dank, was immer gerade dran ist.

Das klingt ein bisschen wie: Es wirkt schon durch das Sprechen.

Ina Brinkmann: Ja.

Gibt es vielleicht derzeit einen Vers der Ihnen besonders gefällt? Eine Bitte, bei der Sie sagen: Ja das fehlt gerade besonders?

Ina Brinkmann: Ja, das ist der Abschnitt, wo es darum geht, dass ich den Augenmerk auf meine Schuld lege und auch auf die Wechselwirkung mit anderen um mich herum, also "Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern". Die Spannung zwischen der Ich-Bezogenheit einerseits und das Du nicht aus dem Blick zu verlieren. Dieser Wechsel zwischen Ich und Du. Die Konzentration auf das Ego ist in diesen aktuellen Zeiten so groß, dass es gut tut, wenn ab und zu mal ein kleines Fragezeichen so über mir erscheint, ob das denn auch so sein muss. Ich frage bei mir selbst noch einmal nach.

Damit man das Vaterunser sprechen kann, muss man das lernen. Wie bringen Sie Ihren Konfis das bei?

Heiko Boysen: Indem wir bei Konfi-Tagen, im Konfirmandenunterricht gemeinsam das Vaterunser feiernd sprechen. In Andachten leben wir es einfach gemeinsam, und die Konfirmanden merken, es ist nichts das rein über den Kopf zu lernen ist. Man muss es mit dem Herzen verinnerlichen. Das ist mir so ein ganz wichtiges Anliegen, dass es wirklich als etwas Gemeinsames gesehen wird und dann auch gefeiert wird. Nicht nur, weil ich es einmal hab auswendig lernen müssen und es nun aufsagen kann. Das kann ich mit Gedichten machen, aber nicht mit einem Gebet, wo ich mit meiner ganzen Existenz mit drin hänge.

Das klingt spannend: Das Vaterunser im Gottesdienst feiern.  Wie geschieht das konkret?

Heiko Boysen: Mit den Konfirmanden feiern wir jeweils zu Beginn und zum Abschluss der monatlichen Konfi-Tage eine Andacht in der Kirche. Wir sprechen zusammen das Vaterunser und verbinden es zum Beispiel mit Bewegungen. Oder haben eine Bitte, die auch gerade Thema im Konfiunterricht war. Die dann noch einmal ganz anders entfaltet wird. Oder nach jeder Bitte wird inne gehalten, und es kommen dann nochmal Gedanken zu Wort, die entweder von den Konfirmanden oder den Teamern formuliert werden. So merken die Konfirmanden: Das, was in den einzelnen Bitten vorkommt, hat mit mir und meinem Leben zu tun. Zum Beispiel wenn es um das Schuld vergeben geht. Andere sind mir quer gekommen, aber ich anderen eben auch. Oder dass die Frage nach dem Willen Gottes immer eine ganz spannende ist. Die Jugendlichen fragen: Ja, muss ich dann das beten, damit Gottes Wille geschieht? Geschieht Gottes Wille nur, wenn wir beten, dass er das tut? Das sind hochkomplexe theologische Fragen, die auch Konfirmanden wahrnehmen.

Wird irgendwann geprüft, ob die Konfis das Vaterunser können?

Heiko Boysen: Es gibt am Ende der Konfirmandenzeit bei mir keine Prüfung, wie man sie von früher kennt, sondern ein Abschlussgespräch in kleinen Gruppen.  Das Vaterunser müssen sie da nicht aufsagen. Sie müssen Dinge, die wir im Unterricht gemeinsam erarbeitet haben, mit eigenen Worten wiedergeben können. Sie sollen mir nicht nachplappern, sondern sie sollen zeigen, dass sie anderthalb Jahre hoffentlich gelernt haben, sich selbst Gedanken zu machen. Und das in Worte fassen zu können. Auswendig müssen sie neben dem Vaterunser das Glaubensbekenntnis und Psalm 23 können.

Gilt das auch für Meldorf? Oder muss man dort einmal zeigen, dass man es auswendig kann?

Ina Brinkmann: Glauben kann man nicht abfragen. Fragen, Zweifel, Inhalte von tiefer Dimension müssen durchdrungen sein. Dafür haben wir in den Konfirmandennachmittagen anderthalb Jahre Zeit. Es gibt auch bei mir keine Prüfung. Das ist ganz ähnlich wie in der Büsumer Kirchengemeinde. Wir üben in der Gruppe das Vaterunser ein. Die Mädchen und Jungen sollen entdecken, dass es in Gemeinschaft auch trägt. Sie sollen merken, dass wir uns selbst mit denen wieder verbinden können, mit denen wir uns gerade furchtbar gestritten haben – einfach durch den Reigen der verschiedenen gemeinsam gesprochenen Bitten. Wir unterstützen das, indem wir uns mit der Hand auf der Schulter im Kreis aufstellen und uns so auch körperlich noch stärker verbinden. Das vermittelt zusätzlich den Eindruck: Das ist etwas völlig andere als das, was ich im Alltag mache. Mit diesen Sätzen unterbreche ich meinen Alltag und entwickele damit eine Atmosphäre, in der Gott sozusagen mit seinem Geist in die Mitte tritt.

Damit sind wir dann auch schon bei meiner letzten Frage: Hände falten, Hände auf die Schulter, im Stehen, im Knien, im Sitzen? Wie betet man das Vaterunser?

Heiko Boysen: Einerseits so, wie man sich wohlfühlt. Aber andererseits auch mit einer gewissen Konzentration, und da kann es gut sein, die Position zu der vorangegangenen zu verändern. Im Gottesdienst haben unsere Vorfahren ja nicht umsonst das Knien eingeführt, oder das Stehen. Es ist eine Möglichkeit, sich anders und intensiver mit dem ganzen Körpern hineinzubringen. Wichtig ist es, eine Form für sich zu finden, wo man ganz bei Gott und somit auch ganz bei sich selbst sein kann. Der eine schließt die Augen, der andere lässt sie offen oder sucht in der Kirche einen Gegenstand, das Kreuz, eine Kerze, um in dem Moment ganz in diesem Gebet zu versinken. Der eine faltet die Hände vor der Brust, der andere mehr im Schoß, der andere faltet sie richtig, der andere legt sie nur zusammen. Da gibt es kein Richtig und Falsch. Hauptsache ist, man ist mit dem ganzen Körper und der ganzen Seele und seinem ganzen Geist beteiligt.
Ich weise übrigens zum Beispiel Urlauber darauf hin, dass das Vaterunser hinten im Gesangbuch abgedruckt ist. Man kann das gern auch ablesen. Wenn  ich eine Amtshandlungsgemeinde habe, von der ich weiß, dass da viele Besucher sind, die nicht so Gottesdienst erfahren sind, dann sag ich: Glaubensbekenntnis und Vaterunser stehen hinten im Gesangbuch. Schlagen Sie nach! Das ist etwas Gemeinschaftliches, das wollen wir gemeinsam sprechen. Und bei manchen löst es aus, dass sie das nächste Mal das Gesangbuch nicht mehr aufschlagen möchten, sondern dann anfangen, es doch nochmal lieber wieder zu lernen.