Ein Ort mit Namen für Menschen ohne Klingelschild

Nahaufnahme eines Grabsteins auf dem Grabfeld für Obdachlose in Köln.
Foto: Katharina Peetz
Grabfeld für Obdachlose in Köln.
Ein Ort mit Namen für Menschen ohne Klingelschild
Manchmal rufen Obdachlose oder Streetworker bei Bestatter Thomas Kremer an: "Ich hab' den Mützenmann schon lange nicht mehr gesehen. Ist der bei euch?" Kremer beerdigt in Köln obdachlose Menschen und lässt ihre Namen auf Grabsteine gravieren.

"Die zwei da kommen auch gerade zu Besuch", sagt Thomas Kremer leise und deutet auf einen älteren Mann und eine ältere Frau, die langsam zum Eingang des Friedhofs schlurfen. Die beiden tragen ihre Habe in ein paar Taschen mit sich. Sie statten ihren Freunden, die auf dem Obdachlosenfeld des Kölner Südfriedhof begraben liegen, einen Besuch ab.

Thomas Kremer kennt sie fast alle. Denn er hat den Obdachlosen einen Ort zum Trauern gegeben. Vor rund 20 Jahren hat der Bestatter angefangen, Obdachlose auf einem speziellen Feld auf dem Südfriedhof zu beerdigen. Bis 1997 hatte er von der Stadt angeordnete anonyme Bestattungen durchgeführt. Wenn alleinstehende Menschen oder Menschen ohne festen Wohnsitz sterben, kümmert sich das Ordnungsamt um ihre Beerdigung. Innerhalb von zehn Tagen werden sie eingeäschert – das ist die günstigste Art der Bestattung.

Bestatter Thomas Kremer.

Bis Ende der Neunziger Jahre wurden sie in Köln dann auf einem anonymen Feld beigesetzt. "Ich wollte aber niemanden mehr gegen seinen Willen anonym bestatten", sagt Thomas Kremer. Also hat er die Urne mit der Asche eines jungen Obdachlosen auf dem freien Feld beigesetzt und den Namen des Toten auf einer Steinplatte verewigt. Mit der Zeit wurden es immer mehr. Schließlich habe auch die Stadt ein Einsehen gehabt, erzählt Thomas Kremer: Seit 1999 ist es per Ratsbeschluss in Köln nicht mehr erlaubt, Menschen gegen ihren Willen anonym zu beerdigen.

Ein kleiner Triumph für Kremer und seine "Interessengemeinschaf für die Bestattung obdachloser Menschen". Trotzdem musste er immer noch gegen Widerstände kämpfen. Die Angehörigen, deren Tote im unmittelbaren Umfeld des Gräberfelds lagen, beschwerten sich, erzählt Kremer. Teilweise kamen jugendliche Obdachlose, um ihrer Freunde zu gedenken. Allerdings nicht immer auf stille Art, sondern auch mal mit Gitarre. Eine Hecke sollte schließlich Lärm- und Sichtschutz bieten. Mittlerweile ist die Hecke wieder weg – das Obdachlosenfeld ist zum festen Bestandteil des Südfriedhofs geworden. Oft hält Bruder Markus die Beerdigungen, er ist katholischer Obdachlosenseelsorger und Streetworker – daher kennt er die Verstorbenen.

"Oh Haupt voll Blut und Wunden" zur Mundharmonika

Für viele der Obdachlosen ist das Gräberfeld fast so etwas wie eine Institution. Häufig äußern sie schon zu Lebzeiten den Wunsch, auf dem Feld beigesetzt zu werden. Manchmal bekomme er auch Anrufe von Streetworkern oder anderen Obdachlosen, erzählt Thomas Kremer: "Die fragen dann: 'Ich hab' den Mützenmann schon lange nicht mehr gesehen. Ist der bei euch?'"

Zum Totengedenktag am 1. November versammelt sich Kremer zusammen mit Obdachlosen und Streetworkern auf dem Feld, um an die Toten zu erinnern. "Das erdet mich immer", sagt Kremer. Dazu trage vor allem die ehrliche und unverstellte Art der Obdachlosen bei. "Die stehen zum Beispiel am Grabstein und sagen einfach: 'Mensch, das ist scheiße, dass du tot bist.'" Ihm gefalle auch die Art der Obdachlosen bei ihrer Totenfeier: "Da steht dann eine Horde wilder Typen auf dem Friedhof und singt 'Oh Haupt voll Blut und Wunden' zur Mundharmonika", erzählt Kremer mit einem Grinsen im Gesicht.

Sogar auf der Straße werde er mittlerweile erkannt und angesprochen. Oft höre er Rufe wie: "Finde ich toll, was du machst." Das verändere auch seine persönliche Sicht auf Menschen, die auf der Straße leben, sagt Kremer.

290 Urnen sind bereits in dem Feld begraben. Allmählich muss sich Thomas Kremer um eine neue Fläche bemühen: "Für 12 Urnen ist noch Platz – dann ist Schluss." Er hat auch schon ein anderes Feld ins Auge gefasst. Wenige Meter von dem ersten Feld entfernt ist eine freie Wiese, auf der ein Denkmal des Cellitinnen-Ordens steht. Das fünf Meter hohe Denkmal hätten ihm die Ordensschwestern schon vor einiger Zeit geschenkt, erzählt Thomas Kremer. Trotzdem habe er bislang noch nicht das Okay bekommen, die Obdachlosengräber hier fortzusetzen. Weil die Stelle zu prominent sei, sagt er. Mit Hilfe des evangelischen Pfarrers Hans Mörtter versucht Kremer, die Stadt davon zu überzeugen, ihm das Feld für sein Projekt zu überlassen.

Unterstützt wird Kremers Interessengemeinschaft durch Spenden und vor allem durch einen Steinmetz. Ohne ihn würde das Konzept des Obdachlosenfriedhofs nicht aufgehen: Der Steinmetzbetrieb Walk sammelt alte Grabsteine, die bei Grababräumungen übrig geblieben sind. Anschließend graviert er die Steine auf der Rückseite neu. Die Gestaltung der Grabstätten ist kreativ: Neben einfachen Platten am Boden gibt es auch eine große Steinwand und eine Art Bank aus Steinen, auf denen Besucher sitzen können – hergestellt aus Grabeinfassungen, die aufeinander gestapelt worden sind.

Dass an den Gräbern die Namen der Toten stehen, ist laut Kremer für die Obdachlosen besonders wichtig. Die, mit denen er gesprochen habe, wünschten sich explizit ein sehr traditionelles Begräbnis, erzählt der Bestatter. "Alles was sie in ihrem Lebensalltag an Konventionellem nicht hatten, möchten sie im Tod." Selbst wer nie ein Klingelschild hatte, findet hier Ruhe an einem Ort, an dem sein Name zu lesen ist.