Empörung über Holocaust-Vergleiche orthodoxer Juden

Empörung über Holocaust-Vergleiche orthodoxer Juden
Provokation pur in Israel: Hunderte ultra-orthodoxer Juden haben gegen eine "Verfolgung" durch die säkulare Mehrheit demonstriert. Viele trugen dabei KZ-Häftlingskleidung und Judensterne.
02.01.2012
Von Susanne Knaul

Der Streit zwischen den radikal religiösen und weltlichen Israelis nimmt immer groteskere Züge an. In schwarz-weiß gestreiften KZ-Anzügen und mit dem gelben Judenstern am Revers und erhobenen Händen zogen einige von insgesamt rund 1.000 ultraorthodoxen Männern und Kindern am Wochenende in Jerusalem auf die Straße - gegen die "Verdrängung der Charedim", wie sie sich nennen.

In Nazideutschland habe man die Juden physisch verfolgt, in Israel gehe es um die ideologische Verfolgung der Ultraorthodoxen, rechtfertigten einige Demonstranten den Missbrauch der Symbole. Auslöser für den eskalierenden Konflikt war eine Reihe von Übergriffen radikaler frommer Juden gegen Mädchen und Frauen. Auf ihren Druck hin wurden Frauen etwa aufgefordert, im Bus separate hintere Plätze einzunehmen.

Beide Lager haben ihre Helden

Am vergangenen Dienstag hatten sich zum ersten Mal einige Tausend weltliche Israelis versammelt, um gegen die von den Ultraorthodoxen vorangetriebene Verdrängung der Frauen aus dem öffentlichen Leben zu demonstrieren. Beide Lager haben ihre Helden.

Der Protest am Samstagabend galt der Solidarität mit dem ultraorthodoxen Rabbi Schmuel Weisfisch, der an diesem Sonntag eine zweijährige Gefängnishaft antreten musste, weil er einen Computerladen verwüstete. Sein gläubiger Mitstreiter Schlomo Fuchs steht seit einigen Tagen unter Hausarrest, nachdem er die Soldatin Doron Matalon eine "Hure" schimpfte, weil sie sich weigerte, seiner Aufforderung nachzukommen und in den hinteren Teil des Busses umzuziehen. Dutzende Bewunderer begleiteten ihn vor Gericht.

Umgekehrt gehört für die Liberalen Tanja Rosenblit zu den Heldinnen, die dem massiven Druck frommer Männer standhielten und sich nicht von ihren Plätzen vertreiben ließen. Genauso wie die achtjährige Schülerin Naama Margolese, die von mehreren erwachsenen Männern beschimpft und sogar angespuckt worden war, weil sie ihren Vorstellungen von keuscher Bekleidung nicht entsprach. Der Übergriff auf das zierliche Kind löste die ersten großen weltlichen Proteste aus. Auch orthodoxe Juden und sogar einige Charedim waren unter den Demonstranten, ihnen waren die Radikalen zu weit gegangen.

Spannungen mit liberaleren Juden

"Mit den frauenfeindlichen Übergriffen haben sie eine rote Linie überschritten", erklärt Ram Vromen, Mitgründer des "Forums zum Schutz des weltlichen Charakters in den Nachbarschaften landesweit", der erklärtermaßen gegen die "Verschwarzung" israelischer Ortschaften und Städte kämpft. Vromen warnt schon lange auf einer Internetseite, bei Diskussionsveranstaltungen und Demonstrationen vor dem schleichenden und steten Vormarsch der Frommen. "Gut, dass die Liberalen endlich aus ihrem Phlegmatismus aufgewacht sind."

Obschon seine Gruppe nur von Weltlichen gegründet wurde, spricht für Vromen nichts gegen eine Zusammenarbeit mit Religiösen. "Für uns spielt es keine Rolle, ob jemand eine Kipa auf dem Kopf trägt", sagt er. "Wichtig ist, ob er einen religiös-fundamentalistischen Staat will oder einen liberalen." Die Tatsache, dass in einem Land, das schon vor über 40 Jahren von einer Frau regiert wurde, heute Frauen um die vorderen Sitzplätze in öffentlichen Verkehrsmitteln kämpfen müssen, scheint paradox. Schuld dafür sind vor allem demografische Veränderungen seit den Tagen Golda Meirs. Jeder vierte Schulanfänger stammt heute aus dem ultraorthodoxen Sektor.

"Die Charedim glauben, dass sie über größere politische Macht verfügen", sagt Vromen. "Sie erleben in letzter Zeit eine Radikalisierung." Nirgends werden die Gegensätze deutlicher als in der Knesset (Parlament). Die Oppositionsführerin ist eine Frau und die Führung der Arbeitspartei liegt ebenso in den Händen einer Frau. Dennoch gibt es Parteien, in denen Frauen gar nicht erst zugelassen werden. Die beiden Koalitionsparteien Schass und Agudat Israel sind frauenfreie Organisationen.

"Rote Linie überschritten"

Schon signalisieren Meinungsumfragen den jüngsten Demonstrationen folgend einen Popularitätsschub für die Politikerinnen. Ministerpräsident Benjamin Netanjahu unternimmt derweil eine Gradwanderung. Einerseits spricht er sich Gleichberechtigung aus, zum anderen will er seine Regierungspartner nicht verprellen. Unterdessen bleiben die Rabbiner, die für eine Abkühlung der erhitzten Gemüter sorgen könnten, stumm.

Avner Schalev, Leiter der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem, sagte dem israelischen Rundfunk am Sonntag: "Dieser Missbrauch des Holocausts ist inakzeptabel und verstößt gegen grundlegende jüdische Werte."

Der israelische Verteidigungsminister Ehud Barak sagte am Sonntag, die Demonstranten hätten mit ihrem Verhalten "eine rote Linie überschritten". "Häftlingskleidung und gelbe Judensterne, auf denen auf Deutsch "Jude" steht - das sind erschütternde und schreckliche Dinge", hieß es in einer Mitteilung des Ministers. Die strengreligiöse Führung müsse energisch gegen solche Phänomene vorgehen. Auch Schalev verurteilte das Verhalten der Demonstranten scharf. Sie verletzten die Gefühle von Holocaust-Überlebenden und das Gedenken an die Judenvernichtung.

Holocaust-Überlebende entsetzt

"Die Säkularen wollen dem Haredi-Sektor vorschreiben, was er in seinem Bereich zu tun hat", sagte einer der mehreren hundert Demonstranten dem israelischen Rundfunk. Ein weiterer Teilnehmer, der einen Judenstern trug, sagte zur Begründung der Proteste: "Diese Lage, in die wir geraten sind - dass ein unschuldiger Religionsstudent für zwei Jahre ins Gefängnis gehen muss - ist genau wie damals die Lage der Juden während des Holocausts."

Ein Holocaust-Überlebender äußerte sich im Gespräch mit dem israelischen Rundfunk entsetzt über solche Ansichten. "Weiß er überhaupt, was während des Holocausts passiert ist?", fragte er. "Hat jemand seine Mutter oder seinen Vater verbrannt oder seine Tochter vergewaltigt?" Er zittere am ganzen Leib vor Empörung, wenn er die Bilder von der Demonstration sehe, sagte der alte Mann. "Ich kann das einfach nicht verstehen."

epd/dpa