Die Babak Rafatis dieser Welt dürfen nicht vergessen werden

Die Babak Rafatis dieser Welt dürfen nicht vergessen werden
Der Suizid von Torwart Robert Enke ist gerade einmal zwei Jahre her – und doch ist die (Fußball)welt verwundert: Denn Schiedsrichter Babak Rafati sah nur den Suizid als Ausweg aus seinen Problemen. Eine Tragödie – nicht nur die tiefe Verzweiflung des Unparteiischen – sondern auch, dass solch ein Thema so schnell wieder in Vergessenheit geraten kann.

Es gibt diese Mentalität bei uns in Deutschland: Leistung zählt. Versagen gibt's nicht. Wer dem Druck nicht standhält, scheitere bitte im Stillen. Burnout? Depressionen? Suizid? Gibt es, klar, aber darüber muss man nicht reden – es sei denn, es ist gerade akut. 

Ja, gerade ist es – wieder – akut. Denn der Schiedsrichter Babak Rafati hat kurz vor einem Bundesligaspiel am Samstag versucht, sich das Leben zu nehmen. Die Fußballwelt ist entsetzt. "Der Druck auf die Schiedsrichter, überhaupt im Leistungssport, ist aus unterschiedlichen Gründen unheimlich hoch. Und wir schaffen es einfach nicht, dies in eine richtige Balance zu bringen", sagte DFB-Präsident Theo Zwanziger.

Neu ist der Gedanke nicht. Denn Theo Zwanziger hatte auf der Trauerfeier für Nationaltorwart Robert Enke nach dessen Suizid ganz ähnliche Worte gefunden. "Maß, Balance, Werte wie Fairplay und Respekt sind gefragt. In allen Bereichen des Systems Fußball. Bei den Funktionären, bei dem DFB, bei den Verbänden, den Clubs, bei mir, aber auch bei euch, liebe Fans. Ihr könnt unglaublich viel dazu tun, wenn ihr bereit seid, aufzustehen gegen Böses. Wenn ihr bereit seid, das Kartell der Tabuisierer und Verschweiger einer Gesellschaft zu brechen."

Schöne Worte - leere Worte. Denn passiert ist in den vergangenen zwei Jahren wenig. Und auch die Äußerung von Liga-Präsident Reinhard Rauball hinterlässt ein beklemmendes Gefühl: "Ich muss sagen, ich hätte selbst nicht geglaubt, dass dieses Thema durch die gesamte Tiefe des professionellen Fußballs geht." 

Nicht gedacht? Da macht es sich einer ganz schön einfach. Denn warum sollte gerade dies ein Thema sein, das nicht "die gesamte Tiefe des professionellen Fußballs" betrifft? Warum sollen nur Spieler – siehe Robert Enke - betroffen sein? Kein anderer auf dem Platz ist so sehr der Kritik der Fans, Spieler und Trainer ausgesetzt wie der Schiedsrichter. Kein anderer wird so häufig für Sieg oder Niederlage verantwortlich und in aller Öffentlichkeit fertig gemacht. Regelmäßig wird der schlechteste Schiri gewählt. Und wer ist gerne der Schlechteste? Der Druck ist also immens. Und den Liga-Chef wundert's, dass das Thema im gesamten Fußball akut ist?

Die verflixte Kultur des Verschweigens

Ja, der Druck, den Schiedsrichter auf dem Platz aushalten müssen – wenn man auch freiwillig Unparteiischer geworden ist – ist hoch. Aber mal ehrlich: Hohe Belastungen müssen wir alle aushalten. Die alleinerziehende Mutter, die Beruf und Kind unter einen Hut bekommen muss. Der Student, der Bafög bekommt und trotzdem noch arbeiten geht, weil das Geld nicht reicht. Jeder Arbeitnehmer, der die von seinem Chef geforderten Zielvereinbarungen erfüllen muss. Ganz zu schweigen von den Dingen, die uns privat unter Druck setzen.

Heißt doch im Umkehrschluss: Es ist nicht der Fußball an sich, nicht das Spiel, das den Druck aufbaut. Es sind die Erwartungshaltungen, die dahinter stehen. Bedeutet das vielleicht, dass an unserem System irgendetwas nicht stimmt? Auf jeden Fall ist klar: Diesen Leistungsanforderungen hält nicht jeder stand. Auch wenn der Suizidversuch Rafatis nichts mit dem Druck zu tun haben sollte, dem er als Schiedsrichter ausgesetzt war: Rafati fand für sich und seine Probleme keinen anderen Ausweg als die Selbsttötung. Und das ist die eigentliche Tragödie.

Man könnte sagen: Es gibt zu wenig Hilfsangebote. Das mag sein, aber die Scham, sich einzugestehen, dass man Hilfe braucht, dass man selber keinen Ausweg findet, hindert uns viel eher daran, aus der Spirale des Nicht-mehr-weiter-Wissens auszubrechen und die vorhandenen Hilfsangebote anzunehmen. Und das liegt wiederum an dieser verflixten Kultur des Verschweigens. An dem Prinzip Leistung. An dem Tabu, nicht versagen zu dürfen.

Die Babak Rafatis dieser Welt dürfen nicht wieder so schnell in Vergessenheit geraten

Robert Enkes Tod, Cottbus-Spieler Marin Fenins Fenstersprung, der Rücktritt von Schalke-Trainer Ralf Rangnick, die Burnout-Behandlung von Hannovers Torwart Markus Miller: Der Welt müsste längst klar sein, dass schwere Depressionen auch vor Fußballstars nicht haltmachen. Und wenn selbst Fußballstars daran erkranken, warum sollten alle anderen nicht auch betroffen sein? Suizid gehört nicht nur in den Bereich Leistungssport. Aber weil diese Welt so muskelbepackt und knallhart ist, sind nun plötzlich alle verwundert. Auch das ist eine Tragödie.

Die Erinnerungen an Robert Enke und die anderen sind zu schnell wieder verblasst. Die Themen Leistungsdruck und Depressionen scheinen eben nur dann diskussions- und von den Medien berichtenswert, wenn es gerade einen aktuellen Aufhänger gibt. Die Babak Rafatis dieser Welt – egal ob Schiedsrichter, Mutter oder Student – dürfen nicht wieder so schnell in Vergessenheit geraten. Damit mehr Menschen den Mut finden, Hilfe zu suchen und anzunehmen.


Maike Freund ist Redakteurin bei evangelisch.de.