Der unfreiwillige digitale Seelenstriptease

Der unfreiwillige digitale Seelenstriptease
Die bayerischen Behörden haben ein Computerprogramm verwendet, mit dem sich die Online-Kommunikation verdächtiger Personen überwachen lässt. Das Gebaren der Ermittler verstößt nicht nur gegen geltendes Recht, sondern auch gegen das christliche Menschenbild. Anmerkungen aus theologischer Sicht.
14.10.2011
Von Ralf Peter Reimann

Im Paradies waren Mann und Frau nackt, aber Adam und Eva schämten sich nicht, so der biblische Schöpfungsbericht. In einer idealen Welt, im Paradies, kann jeder offen sich zeigen, wie er ist, ohne dass er sich schämen müsste. Geheimnisse voreinander gibt es nicht. Allerdings: Wir leben nicht mehr in einer idealen Welt, die Menschheit wurde aus dem Paradies vertrieben. In der Welt, in der wir heute leben, zeigen wir uns nicht mehr nackt, sondern wir bedecken unsere intimen Bereiche vor der Öffentlichkeit. Wir tragen Kleidung, die uns auch vor allzu neugierigen Blicken anderer beschützt. Bei der Vertreibung aus dem Paradies, so heißt es, "machte Gott Adam und seiner Frau Röcke von Fellen und zog sie ihnen an". Gott selbst kümmert sich darum, dass wir in dieser Welt nicht schutzlos sind, denn Kleidung schützt nicht nur äußerlich vor Kälte, sondern auch unseren Intimbereich vor den Blicken anderer.

Was ist dieser Intimbereich heute in einer digitalen Gesellschaft, in der sich viele Prozesse vom Körperlich-Realen ins Virtuell-Geistige verlagern? Unser Denken, unsere Gedanken, das nicht-ausgesprochene Wort ist sicherlich ein solcher Bereich, der in der digitalen Welt solchen Schutz verdient hat. Man stelle sich vor: Jemand könnte meine Gedanken mitverfolgen, jemand kennte alleine meine Worte schon, bevor ich sie ausgesprochen hätte. Ich wäre für den Beobachter vollkommen transparent und durchsichtig. Oder in der Bildsprache: Ich hätte keine Kleider mehr, die den Intimbereich meiner Gedanken schützen würde. Eine Horrorvision – die aber leider schon Wirklichkeit ist.

Jede Tastaturbewegung mitverfolgen

Ich stelle mir vor, jemand hätte die gesamte Zeit, während ich diesen Text schreibe, jede Tastaturbewegung auf dem PC mitverfolgt, jede Internetseite protokolliert, die ich zur Recherche aufgerufen habe, wüsste, welchem Link ich gefolgt bin (und wo ich vielleicht der Versuchung nachgegeben habe und auf einen Werbebanner geklickt habe) – welchen Abschnitt dieses Textes ich vielleicht gelöscht habe und neu formuliert habe – und hätte mich die ganze Zeit über durch eine Webcam beobachtet. Wenn jemand das alles wüsste – ich würde mich fühlen wie nach einem unfreiwilligen digitalen Seelenstriptease.

Der Chaos Computer Club hat kürzlich enthüllt: Nichts anderes kann der sogenannte Bundestrojaner, ein Überwachungsprogramm, wie es die bayerischen Polizeibehörden bereits eingesetzt haben. Auch wenn bestimmte Funktionen dieses Programms nicht freigeschaltet und deshalb nicht genutzt wurden, wie die Behörden versichern, so erschreckt allein das, was dieses Programm bereits getan hat: regelmäßig Bildschirminhalte des PC der zu überwachenden Person zu machen und an die Übermittlungsbehörden zu übermitteln. Daraus lässt sich natürlich rekonstruieren, wie und was jemand denkt – es werden Gedanken offenbar, die dritten gegenüber nie in Worte gefasst würden.

Ist es legitim und auch verfassungsrechtlich in Ordnung, dass die Polizei solche Überwachungsmethoden einsetzt?

Auch die wehrhafte Demokratie hat Grenzen

Sicherheit hat einen Preis. Diese Binsenweisheit gilt nach den Anschlägen vom 11. September um so mehr. Eine Demokratie muss wehrhaft sein, allerdings darf ihr Schutz eben nicht demokratische Grundrechte aushebeln. Der Schutz von Demokratie und Rechtsstaat darf eben diese nicht abschaffen. Deshalb gibt Grenzen, was zum Schutze des Rechtsstaates erlaubt ist. Wenn aber die Menschenwürde verletzt wird, ist eine solche Grenze definitiv überschritten.

Um Verbrechen zu verhindern und Menschen zu schützen, darf die Polizei Telefone abhören. Auch zur Aufklärung schwerer Verbrechen ist die Überwachung von ansonsten geschützter Kommunikation möglich. Damit es nicht zum Missbrauch kommt, müssen Richter solchen Überwachungsmaßnahmen zustimmen. Als der Bundestag 1998 mit einer Verfassungsänderung die Grundlagen für den sogenannten großen Lauschangriff schuf, bekam der Staat erstmals auch die Möglichkeit, in bestimmten Fällen in das Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung einzugreifen und Gespräche aus der Intimsphäre der eigenen Wohnung abzuhören und auszuwerten. Dazu wurde eigens das Grundgesetz geändert.

Da sich immer weitere Lebensbereiche ins Internet verlagern und Online-Kommunikation immer wichtiger wird, war es nur folgerichtig, dass der Staat auch diese Bereiche in die Verbrechensbekämpfung und Gefahrenabwehr einbezog. Im Katz-und-Maus-Spiel zwischen Polizei auf der einen und Kriminellen auf der anderen Seite läutete die Online-Kommunikation eine neue Runde ein. Verschlüsselungssoftware auf dem PC ermöglicht es, über das Internet - etwa über Skype - geführte Telefongespräche so zu sichern, dass ein Mithören nicht reicht, um die Gespräche zu entschlüsseln. Wer hier Gespräche mithören will, muss das Abhören bereits starten, bevor auf dem PC der Verschlüsselungsvorgang beginnt.

Unter Juristen höchst umstritten

Quellen-Telekommunikationsüberwachung nennt sich daher das Belauschen eines Telefonats, bevor die Verschlüsselung auf dem Computer beginnt. Dazu muss die Polizei – oder wer sonst das Telefonat abhören will – ein Programm auf dem PC des Abzuhörenden einschleusen, das die noch unverschlüsselten Daten übermittelt. Ob solche Quellen-Telekommunikationsüberwachung rechtens ist, bleibt unter Juristen umstritten. Der nun aus Bayern durch den Chaos Computer Club veröffentlichte Fall geht aber einen entscheidenden Schritt weiter. Das dort eingesetzte Abhörprogramm schneidet eben nicht nur Internet-Telefonate vor der Verschlüsselung mit, sondern übermittelt auch Bildschirminhalte an die Ermittlungsbehörden.

Die meisten Juristen sind sich einig, dass dies gegen geltendes Recht verstößt – es ist aber auch ein Verstoß gegen das christliche Menschenbild. Es ist bereits ein großer Eingriff in das Persönlichkeitsrecht, wenn Gespräche aus der Intimsphäre abgehört werden – daran haben wir uns allerdings bereits gewöhnt, es besteht der Konsensus, dass dies in Ausnahmefällen zur Gefahrenabwehr und Verbrechensaufklärung notwendig ist.

Woran ich mich aber nicht gewöhnen möchte: dass der Staat mitverfolgt, wie sich die Gedanken eines Menschen formen und bilden. Diese Grenze darf nicht überschritten werden, denn diese Kenntnis meiner Gedanken gebührt biblisch nur Gott, niemandem sonst:

HERR, du erforschest mich und kennest mich.
Ich sitze oder stehe auf, so weißt du es; du verstehst meine Gedanken von ferne.
Ich gehe oder liege, so bist du um mich und siehst alle meine Wege.
Denn siehe, es ist kein Wort auf meiner Zunge, das du, HERR, nicht schon wüsstest.
Diese Erkenntnis ist mir zu wunderbar und zu hoch, ich kann sie nicht begreifen.
(aus Psalm 139)

Was kann der Bundestrojaner?


Ralf Peter Reimann ist Theologe und arbeitet als Redakteur bei evangelisch.de.