Grenzfälle des Lebens: Schweizer Kirchen und die Sterbehilfe

Grenzfälle des Lebens: Schweizer Kirchen und die Sterbehilfe
Die christlichen Kirchen in Deutschland lehnen aktive Sterbehilfe entschieden ab. In der Schweiz hat zumindest die reformierte Kirche eine etwas andere Haltung: Sie spricht sich bei der aktuellen Überarbeitung des Sterbehilfe-Gesetzes für eine Einschränkung nach Sorgfältigkeitskriterien aus. Nach geltendem schweizer Recht wird Suizidbeihilfe als Freundschaftsdienst gewertet und daher nicht bestraft. Die Theologin Christina Tuor erklärt im Gespräch mit evangelisch.de den Stand der Diskussion in der Schweiz.
16.06.2011
Die Fragen stellte Ralf Peter Reimann

Welche Position haben die reformierten Kirchen in der Schweiz zur Sterbehilfe?

Christina Tuor: Es gehört zum Wesen der reformierten Kirchen auch in der Schweiz, dass sie nicht nur eine Position haben. Anders als in Deutschland ist in der Schweiz die Suizidbeihilfe nicht verboten. Diese rechtliche Regelung und die daraus erwachsene Situation, dass in der Schweiz zwei Organisationen und einige Einzelpersonen Suizidbeihilfe anbieten, nehmen die Schweizer reformierten Kirchen mit in den Blick.

Zurzeit überarbeitet der Schweizer Bundesrat die rechtlichen Rahmenbedingungen. Dabei favorisieren die katholische Kirche und die meisten Freikirchen die vorgeschlagene Gesetzesvariante eines Verbots von Suizidhilfeorganisationen, während die reformierten Kirchen sich für die Gesetzesvariante von Sorgfältigkeitskriterien aussprechen, die für Sterbehelfer und Suizidhilfeorganisationen gelten sollen, dass also ihre Tätigkeit gesetzlich eingeschränkt werden soll.

Gibt es in der Schweiz einen gesellschaftlichen Konsens, inwieweit Sterbehilfe erlaubt sein soll?

Tuor: 2010 gab es eine weit beachtete Umfrage zur Suizidbeihilfe. Dieser Umfrage zufolge findet Suizidbeihilfe eine breite Akzeptanz in der Schweiz, insbesondere in Fällen schlimmer Krankheit oder langen Leidens. Leider wurden den Befragten keine Alternativen angeboten, z.B. der Einsatz von Palliativ-Medizin. Daher bin ich skeptisch gegenüber einer Verallgemeinerung der Umfrage. Allerdings gilt: Menschen schrecken vor einem langen Sterbeprozess und Leid zurück und suchen dann einen Ausweg.

Ich meine, in der Schweiz gibt es noch keinen gesellschaftlichen Konsens zur Suizidbeihilfe. Wir sind mitten in einem Diskussionsprozess. Nach geltendem Recht wird Suizidbeihilfe als Freundschaftsdienst gewertet und daher nicht bestraft, sofern sie nicht selbstsüchtig ist. Was dies für entsprechende Organisationen bedeutet, die Beihilfe zum Suizid anbieten und dafür Geld erhalten, muss geklärt werden.

In Schweizer Sterbehilfeorganisationen sind Pfarrer aktiv. Wie gehen Kirchengemeinden damit um, wenn ein Pfarrer aktiv jemand in den Tod begleitet?

Tuor: Soweit ich es überblicke, sind es vor allem pensionierte Pfarrer, die in Suizidorganisationen mitarbeiten. In ihrem eigenen Selbstverständnis sehen sie sich als Seelsorger, die ihren Dienst an Menschen versehen, die den Tod suchen. Soweit ich es weiß, sind keine aktiven Gemeindepfarrer beteiligt. Käme es zu einem solchen Fall, müsste die Kirchgemeinde im Stellenprofil klären, was Seelsorge für die Gemeinde bedeutet und ob assistierter Suizid ihrem Verständnis von Seelsorge entspricht. Ich nehme allerdings auf Gemeindeebene eher das Gegenteil wahr, etwa dass sich Kirchgemeinden gegen das Errichten von Sterbezimmern vor Ort aussprechen, in denen Menschen beim Suizid assistiert werden soll. So geschehen zum Beispiel im Kanton Zürich.

Ist die Möglichkeit, den eigenen Tod zu wählen ein Ausdruck von Menschenwürde bzw. Selbstbestimmung?

Tuor: Wenn wir theologisch uns dem Thema Sterbehilfe nähern, geht es um zwei Werte: Man spricht von "quality of life" – Lebensqualität - und "sanctity of life" – der Heiligkeit des Lebens. Zur Menschenwürde gehören beide. Dabei kann es auch zu Widersprüchen kommen, diese Spannung müssen wir aushalten. Glaubensüberzeugungen müssen in ethische Aussagen übersetzt werden, das ist nicht einfach. Dabei sehe ich die Aufgabe der Kirchen weiterhin darin, den Lebensschutz stark zu machen.

Wir glauben daran, dass das Leben, auch wenn wir leiden, ein hohes Gut ist, und dass wir im Leben getragen sind, auch in Zeiten von Leiden und Schmerz, auch im Sterben. Aber es gibt Grenzfälle. Wie der Schweizer Theologe Karl Barth sagte, wissen wir nicht, was sich zwischen Gott und dem Suizidenten abspielt. Zum Starkmachen des Lebensschutzes gehört für mich darum der christliche Gedanke, dass Leben ein Leben in Beziehung ist; Gemeinschaft gibt unserem Leben Sinn. 

Ein Grenzfall ist auch, wenn ein stark leidender Mensch keinen Suizid mehr ausführen kann. In solchen Ausnahmefällen mag unter Umständen ein assistierter Suizid gerechtfertigt sein. Ich kann dies nicht theologisch begründen, sondern sehe es als Grenzfall des Lebens an. Aber auch in diesen Grenzfällen sind das Anbieten von Gemeinschaft und Palliativmedizin elementar.

Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen dem Angebot von Hospizen und dem Wunsch nach Sterbebegleitung? Wünschen weniger Menschen Sterbebegleitung, wenn es ein dichtes Netz von Hospizen gibt, wo Menschen in Würde sterben können?

Tuor: Für einen solchen Zusammenhang gibt es verschiedene Anhaltspunkte. Als ein Beispiel nenne ich ein Schweizer Krankenhaus, in dem vor wenigen Jahren einer Suizidhilfeorganisation erlaubt wurde, im Krankenhaus ihre Dienste anzubieten. Gleichzeitig wurde in diesem Krankenhaus die palliative Pflege ausgebaut. Es gab in diesem Krankenhaus keine verstärkte Nachfrage nach begleitetem Suizid, aber die palliative Pflege wurde sehr stark nachgefragt.

Das deckt sich mit einer Umfrage, wonach sich 90% der Schweizer am Lebensende eine palliative Pflege wünschen, die medizinische, psychische Pflege und spirituelle Begleitung einschließt. Es gibt eine zunehmende Nachfrage nach solcher palliativer Pflege, die in vielen Kantonen in Krankenhäusern und auch in Diakonissenhäusern aufgebaut wird. Besonders in ländlichen Gebieten ist jedoch die Information über diese Angebote noch mangelhaft. Gegenüber der deutschen Hospiz-Bewegung gibt es in der Schweiz Nachholbedarf.

Sehen Sie bei einem freizügigen Zugang zur Sterbehilfe, dass sich in der Gesellschaft ein Druck aufbaut, den Tod zu wählen, anstatt teure Hospiz-Pflege zu ermöglichen? Wird der Tod bzw. das Lebensende ökonomisiert?

Tuor: Auf diesen Druck machen in der Schweiz nicht nur Politiker aufmerksam, auch kirchliche Seelsorger bestätigen diesen Druck. Wir müssen dies ernst nehmen. Es ist die Aufgabe der Kirchen, dieser Entwicklung entgegenzuwirken. Für mich ist es alarmierend, dass rund 30 Prozent der Klienten von Suizidbeihilfeorganisationen nicht tödlich erkrankt sind. Die Organisation "Exit" fordert öffentlich, auch die Suizidbeihilfe für Lebenspartner von Suizidwilligen oder bei Demenzkranken. Da spielt nicht nur eine Ökonomisierung hinein, es wird auch ein bestimmtes Verständnis von Lebenswert mittransportiert. Daher ist es eine unserer Forderungen, die palliative Begleitung in die Grundversicherung der Krankenkasse aufzunehmen. Alle Menschen sollen sich palliative Betreuung leisten können, die ihrem Sterben einen Raum im Leben gibt.

Worin unterscheidet sich die Sterbehilfediskussion in der Schweiz von Deutschland? Bestimmt der Euthanasie-Mord an Kranken in der Nazi-Zeit noch immer auch den theologischen Diskurs in Deutschland?

Tuor: Dies sehe ich aus meiner Perspektive so, allerdings müsste man es eigentlich umgekehrt ausdrücken. Ich bedauere, dass man in der Schweiz wenig Sensibilität in Bezug auf die Euthanasie-Programme der Nazizeit zeigt. Der größere Unterschied in der Diskussion ist jedoch durch die unterschiedliche Gesetzeslage in beiden Ländern bedingt. In Deutschland setzen die Kirchen sich gegen eine Aufweichung des Lebensschutzes ein, in der Schweiz engagieren sich die Kirchen in einem gesellschaftlichen Diskurs für den Lebensschutz, den sie durch bestimmte Tätigkeiten von Suizidhilfeorganisationen bereits aufgeweicht sehen.

Bei den kirchlichen Positionen sehe ich keine grundlegenden theologischen Unterschiede. Manchmal werden die Schweizer Positionen in Deutschland plakativ dargestellt, so dass dann Unterschiede zwischen der EKD und den Schweizer Kirchen hervorgehoben werden, so wie es im EKD-Text "Wenn Menschen sterben wollen" (2009) geschah. Deutsche und Schweizer können voneinander lernen, wenn sie miteinander reden, so wie wir es nach Publikation der EKD-Studie getan haben. Sowohl den deutschen als auch den Schweizer Kirchen geht es um Lebensschutz und Menschenwürde bis ans Ende – allerdings ist, wie gesagt, die Ausgangslage unserer Diskussion in der Schweiz durch die spezifische Rechtslage eine andere.

Dieses Interview erschien erstmals am 19. Juni 2011 auf evangelisch.de.


Dr. Christina Tuor arbeitet beim Schweizerischen Evangelischen Kirchenbund (SEK) und ist Leiterin des Instituts für Theologie und Ethik.