Flüchtlingsexpertin: "Es gibt keine Insel der Seligen"

Flüchtlingsexpertin: "Es gibt keine Insel der Seligen"
Rund 5.000 Tunesier sind in den vergangenen Tagen mit Booten nach Italien, auf die Insel Lampedusa, geflohen. Sie fliehen, obwohl sie ihren Präsidenten gestürzt haben. Warum die jungen Männer Tunesien verlassen und wie es Flüchtlingen wie ihnen in Deutschland ergeht, erklärt Hildegund Niebch, Expertin für Flucht und Migration der Diakonie.
15.02.2011
Die Fragen stellte Anja Hübner

Was macht Europa so verheißungsvoll für Flüchtlinge?

Hildegund Niebch: Verheißungsvoll ist Europa für Flüchtlinge solange die Lebensbedingungen auf der Welt so sehr auseinandergehen. Solange Krieg, Unterdrückung, Hunger und Existenznot stärker auf der südlichen Halbkugel zu finden sind als im Westen, werden die Menschen versuchen, dieses Leben hinter sich zu lassen. Außerdem wirken Bilder sehr stark – vor allem in den neuen Medien, aber auch im Fernsehen. Deshalb wissen die Menschen in Afrika und Asien sehr gut Bescheid, was im Westen los ist. Vermittelt werden vor allem die glänzenden Seiten: die gute finanzielle Absicherung und die Ausbildungsmöglichkeiten zum Beispiel. Diese Bilder verstärken den Wunsch, auch davon zu profitieren.

Der Umsturz in Tunesien war erfolgreich, da wundert es doch, dass trotzdem so viele Tunesier aus ihrem Land weg möchten. Warum fliehen sie nun nach Lampedusa?

Hildegund Niebch: Das liegt vor allem daran, dass sich in Tunesien zwar etwas geändert hat, aber es noch keine politische Stabilität gibt. Deshalb herrscht eine große Verunsicherung unter den Menschen: Wie geht es weiter? Sie sehen nicht, dass sich schnell etwas tut. Es sind vor allem junge Männer, die fliehen. Unter ihnen sind die Arbeitslosigkeit und damit die Perspektivlosigkeit sehr groß. Italien hatte ein Rückübernahmeabkommen von Flüchtlingen mit der alten Regierung von Tunesien. Durch die politischen Umwälzungen gilt das aber derzeit nicht mehr. Deshalb ist nun eine Lücke offen, die viele Menschen nutzen, um zu gehen. Möglicherweise sind unter denen, die in Italien ankommen, auch Flüchtlingen zum Beispiel aus Somalia oder Eritrea, die in Tunesien gestrandet waren und jetzt ihre Chance nutzen, nach Europa zu kommen.

Könnten diese Menschen auch nach Deutschland kommen?

Hildegund Niebch: Theoretisch schon, aber sie würden nach Italien zurückgeschickt werden. Denn nach der Dublin-II-Verordnung von 2003 ist in Europa das Land für die Flüchtlinge zuständig, in dem sie das erste Mal registriert worden sind. Über ein länderübergreifendes Fingerabdruck-System lässt sich das prüfen. Im Falle der Flüchtlinge in Lampedusa ist also Italien zuständig und Deutschland würde alles tun, um sie dorthin zurückzuschicken.

Welches sind denn allgemein die häufigsten Motive von Menschen aus ihren Heimatländern zu fliehen?

Hildegund Niebch: Man muss die Motive für eine Flucht immer im Zusammenhang mit der Herkunft der Menschen sehen. An oberster Stelle in der deutschen Statistik standen im vergangenen Jahr Flüchtlinge aus Afghanistan und Irak. Die Lebensbedingungen dort sind alles andere als sicher – wir brauchen nur die Zeitung aufschlagen, um von Angriffen und Terroranschlägen zu lesen. Außerdem kamen viele Flüchtlinge aus Serbien und Mazedonien. Von hier können Menschen seit letztem Jahr ohne Visum in die EU ein reisen. Vor allem für Minderheitsgruppen, wie den Roma, gibt es in diesen Ländern große existenzielle Probleme. Schließlich flüchten viele Iraner und Somalier aus ihrer Heimat. Gründe im Iran sind Unterdrückung, Folter und Inhaftierung. Und Somalia ist ein sogenannter gefallener Staat ohne Regierung, in dem die Menschen unter desolaten Verhältnissen leben.

Gibt es noch weitere, nicht ganz so offensichtliche Motive zu fliehen?

Hildegund Niebch: Ja, zum Beispiel fliehen einige homosexuelle Männer aus Afrika, die wegen ihrer Sexualität dort unterdrückt und eingesperrt werden. Und Frauen aus dem Iran und Afghanistan: Sie wollen die geschlechtsspezifische Unterdrückung nicht mehr anerkennen.

Unter welchen Umständen dürfen solche Flüchtlinge denn in Deutschland bleiben?

Hildegund Niebch: Die Menschen können dann bleiben, wenn das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge als offizielle Stelle entschieden hat, dass jemand als Flüchtling anerkannt wird oder einen Abschiebeschutz erhält. Das ist dann der Fall, wenn deutlich wird, dass jemand an Leib und Leben bedroht wird. Das kann ein Kriegszustand oder auch drohende Folter oder extreme Existenznot sein. Manchmal werden zum Beispiel auch Flüchtlinge anerkannt, die an HIV erkrankt sind und in ihrer Heimat nachweislich nicht behandelt werden.

Mit welchen Problemen sehen sich die Flüchtlinge nach der Ankunft an ihrem Ziel konfrontiert?

Hildegund Niebch: Die meisten Flüchtlinge haben weite Wege hinter sich. Es gibt Fälle, in denen sind Menschen bis zu zwei Jahre mit Zügen, Bussen und zu Fuß unterwegs gewesen, bis sie schließlich in Deutschland aufgenommen wurden. Die Flucht hat den meisten Flüchtlingen viel psychische und physische Stärke genommen. In Deutschland steht den Flüchtlingen als erste Hürde eine Befragung durch Beamte des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge bevor. Dabei müssen sie sehr detailliert von ihrer Fluchtgeschichte und ihren Problemen in der Heimat erzählen. Viele Menschen sind traumatisiert, und so ist es ihnen nur schwer möglich, alles Erlebte auf den Tisch zu legen. Darin besteht oft die größte Schwierigkeit, und es ist eine harte Erfahrung.

Auch insgesamt trifft die Situation von Flüchtlingen in Deutschland häufig nicht das paradiesische Bild, das sich die Menschen ausgemalt haben. Warum berichten die Flüchtlinge ihre Angehörigen in ihren Heimatländern nicht davon?

Hildegund Niebch: Viele schämen sich dafür, dass es ihnen nicht so gut geht. Sie wollen nicht an dem Bild kratzen, das ihre Familie von ihrem Leben nun hat. Schließlich haben Freunde und Verwandte sich oft verschuldet, um die Schlepper für die Flüchtlinge zu bezahlen. Auf den Menschen lastet ein enormer Druck, den Hoffnungen ihrer Familie gerecht zu werden – auch wenn sie nicht in Reichtum leben.

Wie sehen Sie die Zukunft von Flüchtlingen in Deutschland und Europa?

Hildegund Niebch: Insgesamt lässt sich sagen: In der globalen Welt können wir uns keine Insel der Seligen einbilden, um die man eine Mauer ziehen kann, und der Rest geht uns nichts an. Deutschland ist nicht der einzige Ort, wo Flüchtlinge in Europa hinwollen. Im Jahr 2009 stand Deutschland zum Beispiel an Platz drei hinter Großbritannien und Frankreich. Am wichtigsten ist: In der deutschen Verfassung ist festgelegt, dass wir Flüchtlingen, die aus begründeter Furcht vor Verfolgung fliehen, einen Schutzraum bieten müssen. Das ist auch gut so, denn das gehört zum humanitären und menschenrechtlichen Grundverständnis in unserem Land.


Hildegund Niebch (54) ist Referentin für Flucht und Migration im Diakonischen Werk in Hessen und Nassau.