"Wir versuchen, Licht in die Situation zu bringen"

"Wir versuchen, Licht in die Situation zu bringen"
Es gibt viele Robert Enkes in Deutschland. Vielleicht hat sein Freitod vor einem Jahr die Augen dafür geöffnet: Wer unter Depressionen leidet, darf darüber sprechen – sollte es sogar unbedingt tun. Kirchliche Stellen bieten Hilfe an, zum Beispiel am Telefon oder online. Gerade die Anonymität hilft Betroffenen, sich zu öffnen.

"Die Leute reden oft von Burn-out. Das können die anderen besser nachvollziehen, denn es gilt als ganz toll, viele Termine zu haben", sagt Gabriele Klix-van Drunen. Sie ist Psychotherapeutin und arbeitet bei der "Offenen Tür", einer Einrichtung der Erzdiözese Bamberg in Erlangen. Mit depressiven Menschen hat sie in der Telefonseelsorge und in der direkten Beratung häufig zu tun. "Die Menschen fühlen sich überfordert, haben keine Kraft und glauben morgens, den Tag nicht überstehen zu können. Aber es gibt auch das andere Extrem: Man kann nicht mehr schlafen, ist überdreht und innerlich unruhig. Depression bewegt sich zwischen zwei Extremen", erklärt sie.

Daher sei es als erstes wichtig, eine gute Diagnose zu erstellen: "Die Leute wissen ja oft selbst nicht, wie ihnen geschieht. Auf einmal können sie sich nicht mehr freuen." Gabriele Klix-van Drunen versucht ihren Klienten sofort zu vermitteln, dass eine Depression behandelbar und heilbar ist, zum Beispiel durch Psychotherapie oder auch Medikamente. Die "Offene Tür Erlangen" arbeitet mit Ärzten und einer Klinik zusammen. Die Erkrankten können sich allerdings auch selbst helfen, zum Beispiel mit Sport: "Laufen, Radfahren, Schwimmen, Krafttraining – egal was, Hauptsache raus und bewegen."

Suizidgedanken: "Das geht unter die Haut"

Manchmal kommt es vor, dass jemand in der Telefonseelsorge Selbstmordgedanken äußert. Meist indirekt mit Formulierungen wie "Ich frage mich, ob das alles noch einen Sinn hat" oder konkreter: "Ich habe Tabletten gekauft". Dann muss die Beraterin sich trauen, nachzufragen: "Welche Vorbereitungen hast du getroffen? Hast du Zeit und Ort überlegt?" Dabei geht es auch darum, dem Betroffenen eine freie Entscheidung zu lassen: "Du kannst das machen", sagt sie am Telefon. Das klingt zynisch, führt aber zum Ziel, weil es den Druck wegnimmt. Die Beraterin will nichts von ihrem Gegenüber. "Die Befürchtung ist falsch, etwas verschlimmern zu können", erklärt Gabriele Klix-van Drunen. "Sondern ich mache deutlich: Ich bin wirklich an dir interessiert."

Wenn sie den Namen und die Adresse desjenigen hat, der offenbar ernsthaft plant, sich das Leben zu nehmen, ruft sie die Polizei oder den Krisendienst an. "Das ist meine Bürgerpflicht", ist sie überzeugt. Den Betroffenen sagt sie sogar am Telefon, dass die Situation für sie jetzt schrecklich ist. "Es geht immer unter die Haut", gibt Gabriele Klix-van Drunen zu. "Wir brauchen selbst Begleitung und Supervision und können das nicht rund um die Uhr machen."

Als Erfolg wertet sie es, wenn der oder die Betroffene sein Vorhaben in diesem Moment nicht umsetzt. Dabei geht es manchmal um Zeiträume von 20 Minuten, die am Telefon verabredet werden: Die Beraterin und der Ratsuchende versuchen gemeinsam, etwas zu finden, was Halt gibt. Das kann eine Erinnerung an eine schöne Situation sein oder auch ganz alltägliche Dinge: "Hast du heute schon etwas gegessen?" fragt sie oft, oder "Willst du mal einen Tee kochen?" Die Betroffenen würden oft die Fürsorge für ihren Körper vernachlässigen, weiß sie aus Erfahrung. Manchmal wird verabredet, dass man nach 20 Minuten noch einmal in Kontakt tritt.

Ratsuchende schreiben lange Mails

Auf diese Weise eine Beziehung zu den Ratsuchenden aufzubauen, ist in der Online-Seelsorge schwieriger. Es gibt sie zum Beispiel in der Beratungsstelle in Walsrode in der Hannoverschen Landeskirche. Unter www.evangelische-beratung.info kommen hier E-Mails an, und zwar lange E-Mails, berichtet der Leiter der Beratungsstelle Hartmut Schäfer-Erhardt. Bis zu anderthalb Seiten tippen die ratsuchenden Menschen und äußern darin ähnliche Probleme wie in der Telefonseelsorge: Verzweiflung, Depression, Suizidgedanken.

Die Berater versuchen, möglichst bald zu antworten, manchmal noch am selben Tag. Auf Suizidgedanken können sie nicht ganz so leicht eingehen wie die Kollegen in der Telefonseelsorge: "Ich kenne in der Regel den Namen und den PC nicht, und ich habe Schweigepflicht", erklärt Schäfer-Erhardt. Er schreibt zurück und versucht dabei zu signalisieren: "Wir haben verstanden", um dann Alternativen aufzuzeigen und Hoffnung zu machen. Auch hier werden "Verträge" abgeschlossen: Zum Beispiel, während der Zeit der Beratung niemanden, auch nicht sich selbst, körperlich anzugehen. "Die Leute sind entlastet", beschreibt Schäfer-Erhardt seine Erfahrung.

Besonders für junge Menschen: Seelsorge im Chat

Die E-Mail-Seelsorge wird vor allem von jüngeren Menschen genutzt, die sich mit dem Medium Internet auskennen. Gleiches gilt für das Angebot der Chat-Seelsorge, das einige Telefonseelsorge-Stellen anbieten, zum Beispiel in Siegen. Jüngere Männer und Jugendliche melden sich unter www.telefonseelsorge.de an, geben Benutzernamen und Passwort ein und suchen sich einen Termin aus. "Heute und morgen sind alle Termine belegt", sagt der Leiter der Telefonseelsorge Heiner Meilwes nach einem Blick in den Chat-Kalender, "die Nachfrage ist höher als das Angebot". Das liegt an der extremen Niedrigschwelligkeit der Chat-Seelsorge.

Menschen, die ohnehin den ganzen Tag am Computer sitzen, klicken sich durch und melden sich anonym an, schauen zwischendurch immer wieder mal vorbei. Ob sie den Termin zum Chat mit einem Seelsorger dann auch wahrnehmen, ist nicht gesagt. Falls sie es aber tun, steht ein Berater für 40 bis 50 Minuten im Chat zur Verfügung. Im Gegensatz zur Online-Seelsorge ist der Chat eine Jetzt-Situation, ähnlich wie ein Telefonat. Die Mitarbeiter wurden darauf extra vorbereitet: "Sie müssen schnell tippen und gut mit Texten umgehen können", erklärt Meilwes. Die Themen, die Ratsuchende im Chat ansprechen, sind zum Beispiel Arbeitsüberlastung, Burn-out, autoaggressives Verhalten wie "Ritzen" und – für Heiner Meilwes überraschend – auch Suizidgedanken.

Die Betroffenen haben allerdings meist nicht konkret vor, sich das Leben zu nehmen, sondern äußern ihre Gedanken "drumherum". Diese Gedanken können im Chat geordnet werden. Dann verweist die Chat-Seelsorge genau wie die Online-Beratung oder die Telefonseelsorge bei Bedarf auf Therapieangebote. Alle drei können nur erste Anlaufstellen sein. Die Kontakte mit den evangelischen und katholischen Beratern dürften allerdings in vielen Fällen schon Leben gerettet und Wege aus dem Lebensüberdruss geebnet haben.

Die kostenfreien Nummern der Telefonseelsorge: 0800 / 111 0 111 und 0800 / 111 0 222