Am Limit: Ein Leben zwischen Pflege und Job

Am Limit: Ein Leben zwischen Pflege und Job
Bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf geht es in der alternden Gesellschaft längst nicht mehr nur um Kinderbetreuung. Immer mehr Menschen pflegen auch kranke Angehörige. In ihrem Leben ist häufig nichts mehr, wie es einmal war.
06.09.2010
Von Stefanie Koller

Es sind zwei Worte, die das Leben von Rudolf Mehringer und seiner Familie für immer verändert haben: Multiple Sklerose. 14 Jahre ist es nun her, seit die Ärzte die Krankheit bei Mehringers Frau diagnostizierten. Die gefühlte Last, die auf den Schultern des 44-Jährigen liegt, wächst seitdem stetig. Er pflegt seine Frau, zieht die gemeinsame Tochter groß und verdient den Lebensunterhalt.

"Die Organisation meines Alltags ist ziemlich stramm geworden. Es muss alles minuziös durchgeplant sein", sagt der gelernte Kfz-Mechaniker. "Das geht schon oft an die Substanz." Doch Hilfe annehmen - damit tut er sich schwer. Er will keine Extrawürste - vor allem nicht an seinem Arbeitsplatz beim Technologieunternehmen Bosch in Nürnberg. "Ich möchte ein vollwertiger und flexibler Mitarbeiter bleiben", sagt Mehringer.

Das hat auch damit zu tun, dass die Arbeit das ist, was ihn in schweren Momenten aufrecht hält. Ein Rettungsanker. "Ich brauche meinen geregelten Alltag. Ich brauche die Arbeit, um auf andere Gedanken zu kommen und ganz andere Sachen als daheim zu machen."

Daheim, da macht der 44-Jährige fast alles. Wenn er Frühschicht hat, steht er um vier Uhr morgens auf. Er versorgt seine Frau, die fast vollständig gelähmt ist. Nur den linken Arm kann sie noch bewegen. Er macht Gymnastik mit ihr, setzt sie in den Rollstuhl. Dann bereitet er Frühstück für die Familie vor, macht die Tochter fertig für die Schule und geht selbst zur Arbeit. "Die ganze Hausarbeit wie zum Beispiel Waschen kommt noch dazu", sagt Mehringer. "Normalerweise ist das ein Vollzeitjob."

Hilfe bekommt er von einem Pflegedienst, der vom Staat bezahlt wird. Als dieser im Februar plötzlich die jahrelange Zusammenarbeit aufkündigte, nahm Mehringer zehn Tage Pflegezeit, um einen neuen Dienst zu suchen. "Es ist ein gutes Gefühl, wenn man Unterstützung bekommt. Zu wissen, dass wenn etwas passiert, man wirklich weg kann."

Bisher haben Arbeitnehmer nach dem Pflegezeitgesetz die Möglichkeit, für die häusliche Pflege eine Berufspause von einem halben Jahr einzulegen - allerdings unbezahlt. Die Bosch- Beschäftigten können derzeit bis zu drei Jahre Pflegezeit nehmen. "Die ersten Mitarbeiter nehmen dieses Angebot auch an", sagt die Leiterin der Betrieblichen Sozialberatung, Michaela Noé-Bertram. Zahlen nannte das Stuttgarter Unternehmen nicht. Das Interesse am Thema Pflegepause insgesamt steige aber. Hürde sei aber oft, dass die Mitarbeiter sich eine lange Auszeit nicht leisten könnten. "Eine finanzielle Absicherung wäre eine große Erleichterung."

Auch für Rudolf Mehringer kommt eine lange Jobpause aus finanziellen Gründen bisher nicht infrage. Die neuen Vorschläge zur Familienpflegezeit von Bundesfamilienministerin Kristina Schröder (CDU) sieht er kritisch. "Es müsste finanziell nachgelegt werden." Eine Alternative wäre seiner Meinung nach eher eine Lösung nach dem Vorbild des Elterngeldes.

Schröder hatte zuletzt gesagt, dafür sehe sie derzeit finanziell keinen Spielraum. Das Modell der Ministerin sieht vor, dass Arbeitnehmer ihre Angehörigen bei halber Arbeitszeit pflegen können und dabei drei Viertel ihres Gehalts beziehen. Später sollen die Arbeitnehmer dann wieder voll arbeiten, bekämen aber für einen ebenso langen Zeitraum weiterhin nur drei Viertel des Gehalts. Aus der Opposition, der Wirtschaft und von Sozialverbänden gab es Kritik.

Schröder will ihr Modell noch in diesem Jahr umsetzen. Zwar bieten nach Angaben ihres Ministeriums neben Bosch auch andere Unternehmen in Deutschland bereits eigene Regelungen für pflegende Angehörige an. "Es ist aber ein ganz großer Bedarf da", sagte eine Sprecherin.

Derzeit sind in Deutschland rund 2,25 Millionen Menschen auf Pflege angewiesen. Mehr als zwei Drittel von ihnen werden zu Hause versorgt. Dass sich künftig die Pflege besser mit dem Beruf vereinbaren lassen muss, zeigt ein Blick in die Zukunft. Statistiker und Experten rechnen damit, dass die Zahl der Pflegebedürftigen in den kommenden Jahrzehnten deutlich nach oben schnellen wird.

Eine vom Ministerium in Auftrag gegebene und vor wenigen Tagen veröffentlichte Allensbach-Studie ergab, dass etwa neun von zehn Menschen in Deutschland die Vereinbarkeit von Pflege und Familie als wichtige beziehungsweise sehr wichtige Aufgabe für die Zukunft sehen. Drei von vier Befragten bewerteten die derzeitigen Möglichkeiten als schlecht.

Dabei ist für Menschen wie Rudolf Mehringer Unterstützung besonders wichtig. Viele Freunde schauen heutzutage seltener bei der Familie vorbei. "In einer solch schwierigen Phase trennt sich die Spreu vom Weizen", sagt er. Immer wieder stößt der 44-Jährige auch an die Grenzen seiner Belastbarkeit. "Aber immer nur kurz. Letztlich gewinnt mein Wille und meine Lebensfreude."

dpa