Schiedsrichternachwuchs: Manchmal steht er im Abseits

Schiedsrichternachwuchs: Manchmal steht er im Abseits
"Schiri, wat war das denn? Biste blind?" Alle schimpfen auf den jungen Schiedsrichter – Trainer, Spieler, Zuschauer. Er bekommt kaum Anerkennung und kaum Geld, oft Kritik, auch mal Prügel. Trotzdem steht er jedes Wochenende wieder auf dem Platz. Warum eigentlich?
01.07.2010
Von Nicol Ljubic

Himmelfahrt wird er so schnell nicht vergessen. Den Tag habe er sich im Kopf mit drei Kreuzen angestrichen, sagt er. Nachmittags fand das Halbfinale im Kreisklassenpokal zwischen dem VfL Seesen und TuS Clausthal-Zellerfeld II statt. Und Benjamin Rabe war der Schiedsrichter. Es lief die 91. Minute. Er pfiff einen Zweikampf ab, woraufhin der Spieler mit der Nummer 11, der zwei Meter entfernt stand, ihm etwas zurief, etwas zutiefst Beleidigendes. Was genau, will Benjamin Rabe nicht sagen. "Beleidigt heißt beleidigt", sagt er, und dafür gibt es glatt Rot. Der Spieler fragte, Schiri, wofür Rot? Benjamin Rabe erklärte es ihm, und dann schlug der Spieler mit der Nummer 11 zu. "Hierhin", sagt Benjamin Rabe und zeigt kurz auf seinen Hals.

Er redet nicht gern darüber, gibt nur zögernd Auskunft. Längst wollte er abgehakt haben, was am 17. Mai des vergangenen Jahres geschah, aber er musste feststellen, dass er es nicht kann. "So was vergisst man nicht", sagt er und dass er diese Szene immer vor Augen habe.

17 Euro für ein Spiel

Es war das erste und einzige Mal, dass er auf dem Platz geschlagen wurde. Und natürlich hat er sich anschließend gefragt: Warum machst du das eigentlich? Warum verbringst du jeden Samstag und Sonntag auf Fußballplätzen und lässt dich von Zuschauern beschimpfen und von einem Spieler sogar schlagen? Und das freiwillig, als Hobby. Aber ihm war auch schnell klar, dass er wegen des Spielers mit der Nummer 11 nicht aufhören würde. Vor allem will er nicht damit leben, dass der Spieler ihm vorwarf, arrogant gewesen zu sein. Das hat Benjamin Rabe fast noch mehr verletzt. Auch deswegen macht er weiter: Er will zeigen, dass es nicht stimmt.

Es ist die Frage, die man sich jedes Mal stellt, wenn man im Fernsehen sieht, wie sich der Zorn von Spielern, Trainern und Zuschauern auf den Schiedsrichter entlädt, weil er Abseits gepfiffen oder nicht gepfiffen hat: Warum tun sie sich das an? Der Wunsch nach Anerkennung wird es kaum sein, wann hat man je gehört, dass ein Schiedsrichter gelobt wird. Tun sie es des Geldes wegen? 3.600 Euro bekommt ein Schiedsrichter für ein Erstligaspiel. 1.800 in der Zweiten Liga.

80.000 Schiedsrichter gibt es in Deutschland, davon sind 14.000 jünger als 18 Jahre. Jedes Jahr bildet der Deutsche Fußball-Bund 10.000 Schiedsrichter aus, aber nicht alle bleiben dabei, das ist das Problem für die Verbände, dass viele der jungen Schiedsrichter nach den ersten Erfahrungen auf dem Platz keine Lust mehr haben.

Benjamin Rabe bekommt 17 Euro für ein Kreisligaspiel, zehn Euro für ein B-Jugendspiel der Bezirksliga. Zuzüglich Fahrtkosten. Den Traum von der Ersten Liga hat er nicht, der Druck wäre ihm viel zu groß. Im Moment pfeift er in der Kreisliga, der achten Liga; wenn er es in die sechste schafft, die Niedersachsenliga, dann wäre er schon glücklich.

Die Ungewissheit des Spielverlaufs macht den Reiz aus

Benjamin Rabe ist 20, wohnt in Bad Harzburg bei seiner Mutter, er macht seinen Zivildienst, pflegt einen Krankenhausgarten. Er wirkt sehr kontrolliert, ein gepflegtes Äußeres ist ihm wichtig, das Hemd trägt er in der Hose, er achtet auf seine Worte, er sagt, wer umgangssprachlich rede, werde nicht ernst genommen. Im April 2005 hat er seinen Schiedsrichterschein gemacht. Dafür musste er drei Wochenenden am Schiedsrichterausbildungslehrgang teilnehmen und am Ende einen Regeltest mit 30 Fragen bestehen.

Im darauffolgenden Monat hat er dann sein erstes Spiel gepfiffen. Der Sprung ins kalte Wasser. Er hatte zuvor noch nie als Schiedsrichter auf dem Platz gestanden. Ihm wurde das Spiel zweier Damenmannschaften zugeteilt, das ist gut für Neulinge. Die Dynamik der Damen sei eine andere, sagt Rabe, die Zweikämpfe langsamer. Ob er sich an dieses erste Spiel erinnere? Mit dem Abstand von zwei Jahren kann er darüber lachen. "Ich war ziemlich nervös", sagt er, "und leicht überfordert. Die Mannschaften und die Trainer waren nicht zufrieden mit mir. Ich habe einiges übersehen."

Es ist Mittwoch, später Nachmittag. Um 17:30 Uhr wird er das Pokalspiel zwischen dem FC Othfresen und dem SV Rammelsberg anpfeifen. Ein Spiel der B-Jugend, das heißt: Die Spieler sind zwischen 15 und 17 Jahre alt. Es ist ein Pokalspiel, ein sogenanntes K.-o.-Spiel, der Verlierer scheidet aus. Für Benjamin Rabe bedeutet es: Er muss konzentrierter sein als sonst, weil der Ehrgeiz der Spieler größer ist. Er weiß vor einem Spiel nie, was ihn erwartet, wie sich das Spiel entwickeln wird, ob alles fair und friedlich bleibt, aber genau das ist für ihn auch ein Reiz. Jedes Mal wieder diese Herausforderung, zweiundzwanzig Männer unter Kontrolle zu halten.

"Die Spieler gleich für sich einnehmen"

Der Platz liegt am Rande Othfresens, eines Dorfes zwanzig Kilometer von Bad Harzburg entfernt. Am Kassenhäuschen hängt ein Schild: "Wer den Schiedsrichter beschimpft oder beleidigt, muss mit der Verweisung vom Sportplatz rechnen. Der Vorstand." Benjamin Rabe kennt sich hier aus, drei Tage zuvor hat er auf diesem Platz die 2. Herren gepfiffen. "Du schon wieder", sagt einer der Trainer. In der deutschen Provinz gibt es Tausende solcher Fußballpätze: ein Vereinsheim mit hölzerner Innenvertäfelung; die zwanzig Zuschauer, vorwiegend Eltern und Freunde der Spieler, stehen am Spielfeldrand, Tribünen gibt es nicht; ein paar Mädchen schlendern, zurechtgemacht, neben dem Platz auf und ab.

Ein Mann drückt Benjamin Rabe den Schlüssel für die Umkleide in die Hand. "Was willst du trinken?", fragt er, "Tee? Wasser?" Es sei das erste Mal, dass beim Spiel zweier Jugendmannschaften einer frage, sagt Benjamin Rabe. Er hat eine Umkleide für sich allein. "Schiedsrichter-Raum", steht auf der Tür. Es ist der Heizungsraum, einen Quadratmeter groß.

Als Erstes muss er den Platz ablaufen, prüfen, ob die Linien gut zu erkennen sind, ob die Tornetze keine Löcher haben. Im Vorbeigehen fragt er den Torwart, ob er schon warm sei. "Man muss die Spieler gleich für sich einnehmen", sagt Rabe. Er plaudert kurz mit den Trainern, geht dann in seinen Schiedsrichterraum und zieht sich um. Er entscheidet sich für das gelbe Hemd, das er dann sorgfältig in die schwarze Hose steckt. "Das muss sein", sagt er, "alles andere sieht unordentlich aus." Auch im Alltag ist es ihm wichtig, keine Löcher in den Hosen zu haben, er würde auch nie Hosen tragen, die ihm in den Kniekehlen hängen.

"Als Schiedsrichter muss man sich durchsetzen können"

Wie er sich selbst beschreiben würde? Er sei um Ordnung bemüht, sagt Benjamin Rabe. Er korrigiere gern Leute, was diese oft als klugscheißerisch empfänden, aber er achte nun mal auf die kleinen Fehler, wenn jemand zum Beispiel den Dativ statt des Genitivs verwende.

Er möchte gern Werkstoff- und Materialwissenschaft studieren, weil er schon zu Schulzeiten den Spaß am Naturwissenschaftlichen entdeckt habe. Rabe zieht die Verbindung zu seinem Hobby: Als Schiedsrichter handle man nach Regeln, es gehe darum, die Ordnung auf dem Platz herzustellen, genau wie in der Naturwissenschaft, da gehe es auch um die Ordnung der Dinge.

Es ist auffallend, dass er seine Körpersprache ändert, sobald er den Platz betritt. Er ist aufrechter, Kopf hoch, Brust raus, die Gestik resoluter. Viermal in der Saison wird er von einem anderen Schiedsrichter beobachtet und beurteilt. "Benjamin zeigte sich mit dem Anpfiff als sehr engagierter, aufmerksamer Spielleiter, der den Mannschaften sofort aufzeigte, wer auf dem Platz das Sagen hat", steht in einer Beurteilung vom September vergangenen Jahres. "Als Schiedsrichter muss man sich durchsetzen können", sagt Benjamin Rabe, und dass er viel für sein privates Leben gelernt habe. Er sei viel selbstbewusster geworden, seit er Schiedsrichter sei. Im Verlauf des Spiels übersieht er zweimal eine Abseitsposition, was zu großem Unmut unter den Zuschauern führt. "Schiri, wat war das denn? Biste blind?" – "Schiri, für wen biste eigentlich?" Später im Auto ärgert er sich über sich selbst. Er hätte das Abseits erkennen müssen.

Fehler lassen ihn nicht ruhen

Aber es ist schwierig, allein, ohne Assistenten an den Seitenlinien. Die gibt es erst ab der Kreisliga aufwärts. Ob er die Rufe gehört habe? Einmal, sagt er und: dass er sie nicht wirklich wahrnehme. Mit dem Anpfiff sei er in einer anderen Welt, was außerhalb geschehe, nehme er kaum wahr. "Wenn ich auf dem Platz bin, lasse ich nichts an mich heran", sagt er.

Man merkt, dass ihn diese Fehler nicht so schnell werden ruhen lassen, dass er den Ehrgeiz hat, beim nächsten Mal besser zu sein. Er hat den Traum vom perfekten Spiel. Er sagt, es gäbe am Anfang eine Ordnung auf dem Platz, die er beibehalten wolle. Und jedes Spiel ist eine neue Herausforderung.

Wie viele Spiele er in den vergangenen zwei Jahren geleitet hat, weiß er nicht genau, er schätzt, um die hundert. Schlechte Erinnerungen hat er nur an wenige. Da war dieses C-Jugend-Spiel, in dem es so viele Fouls gab, dass er in der Halbzeit die Trainer gefragt hat, ob er das Spiel abbrechen solle. In der Nachspielzeit hat er dann einem 14-Jährigen die Rote Karte gezeigt, daraufhin sind die Trainer ausgeflippt. Benjamin Rabe hat schnell die Tasche gepackt und weg war er.

Sein Vorteil sei, sagt er, dass er selbst Spieler war und sich in deren Emotionen hineinversetzen könne. Als Kind und Jugendlicher hat er in Auswahlmannschaften gespielt, hatte sich aber zweimal die Schulter ausgekugelt. Sein älterer Bruder, der auch pfeift, sagte, bei deinen Verletzungen, warum besuchst du nicht mal einen Schiedsrichterlehrgang? Und so fing er an, als Assistent seines Bruders, aber irgendwann dann wollte er nicht nur am Rand stehen, sondern selbst entscheiden.

Der Schiedsrichter will keinem Spieler was Böses

Ein paar Wochen nach dem Spiel in Othfresen pfeift Benjamin Rabe ein Kreisligaspiel. TSG Jerstedt gegen SV Engelade/Bilderlahe. Dieses Mal ist er nicht allein, er hat zwei Assistenten dabei. Davon hatte er gesprochen, von dieser Kameradschaft untereinander, die ihm Halt gibt. Er sagte: "Zusammen machen wir uns stark."

Er ist aufgeregt, weil das Spiel vor einer Woche schlecht lief. Schon in der zweiten Minute hatte er ein Handspiel auf der Torlinie übersehen und gleich eine Menge Freunde an den Seitenlinien, wie er sagt. Er ist nicht mehr ins Spiel hineingekommen. Aber er weiß, woran das gelegen hat. Er hatte sich vorher nicht warm gelaufen. Beim Warmlaufen baut er schon Blickkontakt zu den Spielern auf, und das gibt ihm das Gefühl von Sicherheit.

Dieses Mal ist er schon eine Stunde vor Anpfiff da, damit er sich in Ruhe warm machen kann. Zusammen mit seinen Assistenten macht er Dehnübungen, sie laufen die Mittellinie entlang, er gibt das Kommando, wenn er klatscht, ändern sie die Richtung, er sagt auch, wie er sich die Zusammenarbeit vorstellt, wann sie wie die Fahne heben sollen, und zum Schluss sagt er: "Wir müssen alles geben, uns gegenseitig pushen, wir dürfen heute keine Fehler machen."

Das Spiel zu pfeifen bereitet ihm keine Probleme, er darf sogar die Rote Karte zücken, ohne dass es Proteste gibt, zu klar war das Handspiel im Strafraum, das ein Tor verhindert hat. Sieben Mal zeigt er Gelb, einmal, weil ihn ein Spieler kritisiert hat. Es ist das, was Benjamin Rabe nicht verstehen kann: warum ein Spieler ständig über seine Entscheidungen schimpft. Der Spieler muss doch wissen, dass er als Schiedsrichter nach bestem Gewissen handelt, dass er keinem Spieler etwas Böses will. Es hat mit Respekt vor dem anderen zu tun, und Respekt ist Benjamin Rabe sehr wichtig.

Anschließend im Auto ist er dann sehr ausgelassen. Ein Superspiel, darin ist er sich mit seinen beiden Assistenten einig. Und im Überschwang der Gefühle trommelt er einmal sogar mit den Händen aufs Lenkrad.


Der Text ist erstmals erschienen im evangelischen Magazin chrismon, Ausgabe 2/2008.