Kinderarmut in Deutschland: Bekannt, aber nicht bekämpft

Kinderarmut in Deutschland: Bekannt, aber nicht bekämpft
Erschreckend: 2,25 Millionen Kinder in Deutschland sind arm. Armut bedeutet jedoch nicht nur Hunger, sondern auch schlechtere Gesundheit und soziale Ausgrenzung.
25.06.2010
Von Maike Freund

Es gibt Kinder, die keine Tomaten kennen. Oder Brokkoli. Oder Pilze. Die selbst gekochtes Essen skeptisch mustern, wenn sie es vorgesetzt bekommen. Nicht weil es nicht schmeckt, sondern weil sie nichts damit anzufangen wissen. So wie jenes Mädchen, das montags nach der Grundschule zum Verein Nimmersatt in Duisburg-Mitte kam, wo es unter der Woche immer einen Mittagstisch, Hausaufgabenbetreuung und gemeinsames Spielen für Kinder gibt. Sie erzählte, sie habe seit Freitag nichts mehr gegessen. Die Mikrowelle zu Hause sei kaputt, also gab es nichts.

Ein krasses Beispiel, aber durchaus stellvertretend. Nicht dass arme Kinder in Deutschland ständig Hunger leiden müssten. Tatsächlich aber sind regelmäßige, wertvolle Mahlzeiten nicht für alle Kinder in Deutschland selbstverständlich.

Es mangelt an Geld und Wissen

Antje Richter-Kornweitz arbeitet bei der Landesvereinigung für Gesundheit Niedersachsen. Armut und Gesundheit von Kindern ist der Schwerpunkt ihrer Arbeit: "Arme Kinder sind beispielsweise größeren Gesundheitsrisiken im Wohnumfeld ausgesetzt und sie erhalten nachweisbar weniger gesundheitliche und soziale Unterstützungsleistungen. Außerdem wissen sozial Benachteiligte weniger über Gesundheitsförderung oder die Bewältigung von gesundheitlichen Problemen." Das hat Auswirkungen auf die Sprachentwicklung, die Teilnahme an Früherkennungsuntersuchungen, auf das Sehen und Hören und das Ernährungsverhalten. Folge davon sind zum Beispiel Übergewicht und häufigere Zahnerkrankungen.

Ein Grund: die Ernährung. "Mit 20 bis 25 Prozent sind Lebensmittel einer der größten Einzelposten im Budget der ärmeren Haushalte", stellt Richter-Kornweitz klar. Das Geld reiche jedoch nicht für eine ausgewogene Ernährung. Arme Kinder bekommen weniger gesunde Lebensmittel und haben schlechtere Verzehrgewohnheiten. Sie essen weniger Vollkornbrot, Obst und Gemüse, dafür häufiger Limonade, Chips und Fast-Food." Aber: Mütter aus Armutshaushalten würden versuchen, armutsbedingte Belastungen soweit wie möglich von ihren Kindern fernzuhalten, auch indem sie selbst auf vieles – auch auf eigene Nahrung –verzichten.

Kinder + Arbeitslosengeld II = Armut

Armut und Armutsgefährdung werden mit Hilfe der mittleren Einkommenssituation in der jeweiligen Region definiert. In Deutschland gilt als arm, wer weniger als 60 Prozent des durchschnittlichen Einkommens zur Verfügung hat. Betroffen von Armut sind vor allem jene Kinder, deren Eltern von Arbeitslosengeld II leben. In Deutschland bekommen laut Statistiken der Arbeitsagentur 1,78 Millionen Kinder und Jugendliche bis 15 Jahren Sozialgeld. Danach fallen sie in die Statistik der Hartz-IV-Leistungen, weil sie dann als erwerbsfähig gelten. Außerdem kommen noch jene Kinder hinzu, deren Eltern zwar keine Unterstützung bekommen, die aber trotz Arbeit nur über ein geringes Einkommen verfügen.

Laut Sozialbericht waren 2008 in Deutschland 18,4 Prozent – 2,25 Millionen – der Kinder unter 18 Jahren armutsgefährdet. Nach der Definition der EU gelten Personen als arm, "die über so geringe (materielle, kulturelle, soziale) Mittel verfügen, dass sie von der Lebensweise ausgeschlossen sind, die in dem Mitgliedsstaat, in dem sie leben, als Minimum annehmbar ist."

Die Förderung der Ehe ist wichtiger

Dass es in einem reichen Land wie Deutschland Kinderarmut gibt, liegt einerseits am fehlenden Geld in Folge von Arbeitslosigkeit. Andererseits aber auch an den schlechten Rahmenbedingungen: "Die familienpolitische Unterstützung in Deutschland legt ihren Schwerpunkt auf die Ehe. Das Familienbild in Deutschland ist aber längst ein alternatives", sagt Andreas Kalbitz, Referent für Kinderarmut beim Deutschen Kinderschutzbund. Es gebe viele Alleinerziehende oder nicht eheliche Familien. Weitere Hintergründe: die fehlende Möglichkeit, Job und Kinder mit einander zu vereinbaren.

Auch das Einkommen aus einer Teilzeitbeschäftigung sei häufig nicht ausreichend, wenn es das einzige Einkommen sei, sagt Kalbitz. Er glaubt, dass das Thema Kinderarmut bei Bevölkerung und Politikern angekommen ist. Trotzdem würde sie nicht genug bekämpft: Dass trotz des Problembewusstseins Arme beim Sparpaket der Bundesregierung nicht ausgekoppelt werden, ist Kalbitz unverständlich.

"Schule ist Scheiße"

Er müsste in der Schule sein. Eigentlich. Denn es ist Mittwochvormittag. Aber Murat (Name geändert), 13, hat keine Lust. Lieber hängt er mit seinen Kumpels vor der U-Bahn-Station in Köln Chorweiler ab. "Chillen" nennen sie das. Das machen sie häufig. Auch am Nachmittag. Und die Schule? "Voll doof", sagt Murat. Denn heute steht ein Test in Deutsch an, und er hat nicht gelernt. Warum nicht? Er erzählt, dass er sich ein Zimmer mit dem jüngeren Bruder teilt. Platz für die Schulaufgaben oder zum Lernen hat er nicht, weil zwei weitere Geschwister nach der Schule durch die Zimmer toben.

Und dann hat er Schwierigkeiten mit dem Stoff. Ob ihm niemand hilft? "Wer denn?", fragt er zurück. Zu Hause sprechen sie Türkisch, in Deutsch ist ihm da niemand eine Hilfe. "Is doch auch egal." Es soll cool klingen, abgeklärt, aber seine Stimme kippt dabei ein wenig weg. Und dann schiebt er hinterher: "Schule ist eh Scheiße."

Bildungsarmut: die größte Hypothek

Eine Auswirkung von Armut: Der Ausschluss aus dem Bildungssystem, denn auch Bildung sei nicht kostenlos, sagt Andreas Kalbitz vom Deutschen Kinderschutzbund, beispielsweise, wenn es um Nachhilfe gehe, die sich einkommensschwache Familien nicht leisten könnten, die aber nötig sei, besonders bei Kindern mit Sprachproblemen, weil sie beispielsweise wie Murat einen Migrationshintergrund haben.

Ein weiterer Aspekt: das gemeinsame, längere Lernen mit Kindern, die nicht armutsgefährdet sind. Denn häufig komme Armut in Ballungen vor, beispielsweise in bestimmten Stadtvierteln. Kinder würden dann nicht nur ihre Schul-, sondern auch ihre Freizeit in ihrem sozialen Milieu verbringen. "Kinder in Armut verbringen ihre Zeit mit Kindern, die auch arm sind und bekommen keinen anderen sozialen Input mehr", sagt Kablitz.

Armut nimmt schon Kindern die Hoffnung

Armut kann viele negative Folgen haben, sie können jedoch abgeschwächt werden, je nach dem, wie groß die Widerstandskraft, die Resilienz der Kinder ist, um Probleme zu bewältigen. Wie sehr unterstützen Eltern ihre Kinder? Gibt es eine warme, innige Beziehung? Sind Lehrer ein gutes Vorbild? "Gibt es das alles nicht, kann eine Folge sein, dass Kinder sich zurückziehen. Armut hat also auch Auswirkungen auf die psychosoziale Gesundheit, auf das Selbstvertrauen der Kinder", sagt Kalbitz. Das gehe so weit, dass Kinder ihre Zukunft so sähen, wie die ihrer Eltern. bei staatlichen Transferleistungen.

Die Wiese vor dem Hauptbahnhof in Dortmund ist das Zuhause von Christina (Name geändert). Sie ist nicht obdachlos, aber hier verbringt sie den größten Teil ihrer Zeit: mit den Hunden, Bier, Zigaretten und den anderen Punks. Wann sie das erste Mal vor dem Hauptbahnhof gestrandet ist? Sie weiß es nicht mehr. Aber was sie hier hält, weiß sie genau: die Leichtigkeit. Keine Verpflichtungen zu haben, keinen Druck und vor allem keine Angst vor dem Versagen.

150 Euro für ein ganzes Jugendleben

Immer wenn Christina früher eine schlechte Note nach Hause brachte, brach für sie eine Welt zusammen. Ihre Mutter sagte, das wird schon wieder, begriff aber nicht, dass es für Christina viel mehr als war als nur eine schlechte Zensur. Sie lähmte die Angst vor dem Versagen, bekam Depressionen, aus denen sie nicht mehr raus kam, sie glaubte, sie sei nichts wert. Immer seltener ging Christina zur Schule, fühlte sich alleingelassen, denn auch die Lehrer boten kein Gespräch an oder hinterfragten ihr Verhalten. Schließlich schmiss sie die Schule, da war sie in der elften Klasse des Gymnasiums.

Christina zog aus, seit dem verbringt die heute 19-Jährige ihre Tage mit Nichtstun vor dem Bahnhof. Manchmal nervt es sie selbst, keinen festen Tagesablauf zu haben. In zehn Jahren soll das nicht mehr ihr Leben sein. Sie träumt davon, ihr Abitur nach zumachen, irgendwann einmal Soziale Arbeit zu studieren. Aber erst einmal versucht sie, mit einem Psychologen ihre Ängste in den Griff zu bekommen und ihr Leben irgendwie auf die Reihe zu bekommen – mit 150 Euro im Monat.


 

 

Maike Freund ist freie Journalistin in Dortmund und schreibt für evangelisch.de.