Verbreiterhaftung im Jahre 1806

Verbreiterhaftung im Jahre 1806
Der Johann-Philipp-Palm-Preis, den am Sonntag im württembergischen Schorndorf zwei "Heldinnen der Meinungsfreiheit" bekommen, zählt nicht zu den allerbekanntesten Medienpreisen. Dabei steckt eine spannende und hochaktuelle Geschichte dahinter ...

Grimme-, Nannen-, Otto-Brenner-Preis, Bambi und Goldene Kamera, Echo und Lola. Am Mittwoch wurde in Hamburg der Hanns-Joachim-Friedrichs-Preis vergeben, am Freitag folgt in Berlin der DAfF-Preis der Deutschen Akademie für Fernsehen (nicht zu verwechseln mit dem immer noch am meisten dank Marcel Reich-Ranickis öffentlicher Ablehnung vor zehn Jahren bekannten Deutschen Fernsehpreis; den gibt's erst im Januar wieder). An Preisen von und/ oder für Medien herrscht kein Mangel in Deutschland. Meistens werden sie in Berlin, Hamburg, Köln oder München vergeben – in den Städten, die im Medienföderalismus um den Titel Medienmetropole konkurrieren. Und am Sonntag wird in Schorndorf der Johann-Philipp-Palm-Preis vergeben.

Schorndorf? Eine Stadt östlich von Stuttgart mit vielen schönen Fachwerkhäusern, wie das Foto oben auf der Webseite der den Preis verleihenden Palm-Stiftung schön zeigt. Am Marktplatz stehen gleich zwei Apotheken in schmucken Fachwerkhäusern nebeneinander: die Gaupp'sche aus dem 17. Jahrhundert und die mit der Stiftung verbundene Palm'sche aus demselben Jahrhundert. Johann Philipp Palm wurde 1766 dort geboren. Der bekannteste gebürtige Schorndorfer ist er aber nicht – das ist Gottlieb Daimler, dem in einem weiteren Fachwerkhaus ein kleines Museum gilt.

Zu behaupten, dass Palm sehr bekannt ist, wäre ohnehin übertrieben. Er war es in anderen Epochen. Beides hängt mit dem Ort zusammen, an dem er starb: Braunau am Inn. Johann Philipp Palm hat in der Wahrnehmung ein Hitler-Problem – absolut zu Unrecht. Schließlich war Adolf Hitler noch lange nicht geboren, als Palm 1806 erschossen wurde. Bloß zog der bekannteste gebürtige Braunauer in seinem Buch "Mein Kampf" später gleich auf den ersten beiden Seiten eine, wie Annette Krönert aus dem Vorstand der Palm-Stiftung sagt, "krude Kontinuitätslinie" zwischen sich und Palm als vermeintlichem Freiheitskämpfer für eine deutsche Nation, an die ums Jahr 1800 herum noch kaum jemand gedacht hatte. Was genau Hitler schrieb, zitiert Thomas Schnabel vom Haus der Geschichte Baden-Württemberg im Internetauftritt der Palm-Stiftung. Tatsächlich war Johann Philipp Palm ein Märtyrer der Medien- und Meinungsfreiheit.

Weil er ein den Machthabern unbequemes Druckwerk verbreitet hatte, wurde er im österreichischen Braunau (das kurz darauf noch mal für kurze Zeit bayerisch wurde) von französischen Besatzungstruppen auf Befehl des französischen Kaisers Napoleon hingerichtet. Das Druckwerk hieß "Deutschland in seiner tiefen Erniedrigung".

Menschenrechte und Großherzöge

"Erniedrigung"? Der Titel lässt aus heutiger Sicht auch aufhorchen. Niemand würde mehr ernsthaft zu solchen Worten greifen, zumal in Deutschland, oder wenn, dann eher von Erniedrigung der Kultur oder Zivilisation durch Hitler und seine vielen Gefolgsleute sprechen. Anno 1806 war "Deutschland in seiner tiefen Erniedrigung" ein gut informiertes, kritsches und teils polemisches Pamphlet, sozusagen ein Leitartikel auf der Höhe der politisch turbulenten Zeit. Damals ging gerade das alte deutsche Kaiserreich (mit den pompösen, bereits damals als unzeitgemäß empfundenen Attributen "Heilig" und "römisch") ein, das ganze linksrheinische Deutschland wurde von der französischen Republik annektiert, die dann selbst Kaiserreich wurde (was die vormaligen Untertanen erzbischöflicher Kurfürsten und Grafen zu Citoyens mit ganz neuen Bürger- und Menschenrechten machte, andererseits die jungen Männer auch zu zwangsrekrutierten Soldaten des Kaisers Napoleon). Viele deutsche Kleinststaaten verschwanden von der Landkarte, bisherige Herzöge und Kurfürsten stiegen zu Großherzögen oder Königen auf, ohne ihren Untertanen neue Rechte zuzugestehen. In Napoleons Kriege schickten sie sie dennoch. Gegen all so was polemisierte das Pamphlet an. Scharfe Kritik übte es – was im ganzen langen 19. Jahrhundert selten vorkam – am Königreich Preußen und an der dritten polnische Teilung 1795 ("diese verrufene Zerstückelung eines großen Königsreichs"), mit der Polen von den Landkarten verschwand, bis es 1918 wieder dort auftauchte. Wer das Pamphlet lesen möchte: In originaler Frakturschrift ist es bei der Bayerischen Staatsbibliothek online zu haben, in lateinischen Buchstaben bei epoche-napoleon.net.

Was Johann Philipp Palm damit bezweckte? Er hat das Pamphlet gar nicht geschrieben. Das zumindest ist bekannt. "Es gab über die Jahrhunderte verschiedene Theorien", wer der Urheber war. "Keine hat bisher zu einem Ergebnis geführt", sagt die Historikerin Krönert. Die oft geäußerte Ansicht, Palm hätte sein Leben retten können, wenn er den Verfasser preisgegeben hätte, sei eine "Fehleinschätzung", meint sie. Er wurde auf ausdrücklichen Befehl Napoleons exekutiert und war "das Exempel, das statuiert werden sollte" – gerade in seiner Eigenschaft als Verbreiter der kritischen Publikation. Palm war von Beruf Buchhändler sowie Verleger in Nürnberg. In seinem Verlag publizierte er unter anderem französische Wörterbücher und Grammatiken. Er "hat versucht, eine Bandbreite abzudecken", sagt seine Nachkommin Annette Krönert, "auch, weil er wirtschaftlich darauf angewiesen war".

Und genau das führt in die Gegenwart: Meinungsfreiheit muss unabhängig von der eigenen Meinung für alle Meinungen (oder die große verfassungsgemäße Bandbreite) gelten. Sie gehört entscheidend zum Geschäft der Medien. Und dass das Todesurteil gegen Palm jedem damals geltenden Recht – dem Nürnberger (Nürnberg war gerade noch Freie Reichsstadt, bevor das neue Königreich Bayern es annektierte ...), dem bayerischen und dem fortschrittlichen französischen ohnehin –  widersprach, erregte die Zeitgenossen. Und Verbreiterhaftung ist ein top-aktuelles Thema: Ist Youtube für alles verantwortlich, was es verbreitet? Auch ungefähr das bezweckt das geplante EU-Urheberrecht (vgl. Medienkolumne der vorigen Woche). Es gibt Gründe, das zu verlangen, aber auch welche, die Pläne kritisch zu sehen – vor allem unter dem Aspekt der Meinungsfreiheit.

Übers Palm eigene Ansichten ist eigentlich gar nichts bekannt. Als er

" ... gefragt wurde: ob ich politische Schriften verbreitet hätte; ich sagte was ich wusste, das höchstens nur per Spedition zufälliger Weise dergleichen könnten versandt worden sein, aber nicht mit meinem Willen und Wissen",

schrieb er im Abschiedsbrief an seine Familie ("Herzensschatz! Herzlich geliebte Kinder!").

Bosnien und Südsudan

Wegen seiner Instrumentalisierung in der Nazizeit geriet Palm anschließend bald eher in Vergessenheit, wenn auch nicht sofort. In den frühen 1950ern versuchte die junge DDR ihn wegen der klaren (und gut begründeten) antifeudalistischen Tendenzen im von ihm verbreiteten Pamphlet, als "den kleinen Buchhändler gegen die Feudalherren" zu vereinnahmen, auch "mit antifranzösischer Stoßkraft", sagt Annette Krönert. Doch verschwand die jahrhundertealte deutsch-französische Feindschaft im Westen schnell und gründlich. Wohl daher versandete dieser Ansatz.

Um Johann Philipp Palm vor der Vergessenheit zu bewahren, gründete die Familie 1995 die nach ihm benannte Stiftung. Seit 2002 wird alle zwei Jahren der mit 20.000 Euro dotierte "Internationale Johann-Philipp-Palm-Preis für Meinungs- und Pressefreiheit" vergeben – an "Helden der Meinungsfreiheit", die wie der Namenspatron oft tatsächlich physisch bedroht wurden. In diesem Jahr sind es zwei Heldinnen (und ohnehin ist der Frauenanteil unter den Ausgezeichneten hoch): Am Sonntag bekommen Josephine Achiro Fortelo Olum aus dem Südsudan, "einem Land ohne Internet", wie Krönert beim Versuch, die Radiojournalistin zu kontaktieren feststellte. Die zweite Preisträgerin Štefica Galić kommt aus dem nicht weit entfernten Bosnien, was zeigt, dass auch unmittelbar in Europa die Meinungsfreiheit bedroht ist. Galić gelte "als Nestbeschmutzerin und ist offenen Bedrohungen, Drangsalierungen und sogar tätlichen Angriffen reaktionärer Nationalisten ausgesetzt. Von den staatlichen Institutionen erhält sie weder Schutz noch Hilfe", heißt es in der Pressemitteilung.

So fern, wie die Ereignisse anno 1806 wirken mögen, schon wegen der wendungsreichen europäischen Geschichte in den folgenden 212 Jahren, liegt nicht alles, was damals geschah. Und Medien-Preise, die in weniger metropolitanen Orten wie Marl oder Schorndorf vergeben werden, sind oft mindestens so interessant wie die vielen in Berlin, Hamburg oder München. Auch und gerade das macht Medienföderalismus aus.

 

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