Die Frage der Woche, Folge 65: Atheist zu 95 % bekehrt?

Die Frage der Woche, Folge 65: Atheist zu 95 % bekehrt?
Was ist daran so schlimm, wenn Atheisten zu 95 % christlich denken?

Liebe evangelisch.de-Nutzerinnen und -Nutzer,

meine Antwort auf Frau Meier/Mayer/Meyer von vergangener Woche wurde viel diskutiert. Ich freue mich immer über solche Diskussionen, selbst wenn sie manchmal vom eigentlichen Thema abgleiten. Zwei Fragen daraus haben mich noch weiter beschäftigt, die ich hier gern noch einmal aufgreifen will.

Martell fragt/sagt:

"Als Redakteur einer christlichen Publikation würde ich übrigens ins Nachdenken kommen, wenn ein Atheist meine Argumente zu 95 Prozent toll findet :-)"

Ich finde das im Gegenteil sogar gut! Warum? Weil es demonstriert, wie sehr unsere Gesellschaft nach wie vor vom Christentum beeinflusst ist. Wenn jemand, der explizit nicht an Gott glaubt und auch keine irgendwie diffuse Gottesvorstellung hat, mit dem evangelisch-christlichen Inhalt mitgehen kann, dann ist das erstmal positiv!
 Alles, was dann noch fehlt, ist der tatsächliche Glaube.

Das ist keine kleine Sache, wenn jemand sich Christ nennt. Ein Gottesglaube muss dabei sein, denn ein reines Handlungschristentum ist im Prinzip nur angewandter Humanismus. Aber wer sich Atheist nennt und nicht an Gott glaubt, ist mir allemal lieber, wenn er (oder sie) in seiner Moral dem Christentum nahekommt. Der Konflikt zwischen Humanisten und Christen, den manche Humanistenverbände gerne ausrufen, muss keiner sein. Beide Wertekanons haben große Gemeinsamkeiten, bei allen Zwistigkeiten, die sich Luther und Erasmus im 16. Jahrhundert lieferten.

Mir ist klar, dass es einige evangelische Christen gibt, denen die spirituelle Komponente ihres Christseins wichtiger ist als die diesseitigen Handlungen. Beides muss sich aber die Waage halten. Das Doppelgebot der Liebe ist schließlich auch zu gleichen Teilen diesseits- und jenseitsbezogen.

Die andere Frage war folgende, von "Gast":

"Warum macht Kirche sich zum Handlanger der Politik und nutzt die Nächstenliebe ihrer Schafe für die Durchsetzung politischer (Kriegs-)Ziele anderer schamlos aus?"

Ich nehme diese Frage nochmal auf, weil sie meiner Meinung nach etwas demonstriert, über das viele Menschen häufiger nachdenken sollten: Welche Intentionen unterstelle ich anderen Menschen, obwohl ich sie nicht kenne? Es ist immer sehr einfach, einer Organisation wie "der Kirche" ein Kollektivbewusstsein zu unterstellen. Aber erstens besteht die evangelische Kirche nicht aus einer monolithischen Einheitsmeinung. Und zweitens ist die obenstehende Aussage auch noch eine, die komplett ignoriert, was leitende Kirchenmenschen in den letzten Jahren gesagt haben. Sie ignoriert auch die oben bereits genannten Glaubensgrundlagen des Christentums.

Die Kirche, so wie ich sie kenne, hat kein Interesse an der "Durchsetzung politischer (Kriegs-)Ziele anderer". Wenn wir alle Kirche sind, frage ich euch und Sie das auch: Habt ihr ein Interesse daran? Natürlich nicht! (Hoffentlich.)

Eine Kirche, die in dieser Welt stark sein will, muss politische Aussagen auf der Basis ihres Wertekanons machen und sie vertreten. Das kann in einer Linie mit Aussagen von politischen Entscheidern liegen, muss es aber nicht. Daraus die Absicht abzuleiten, "die Nächstenliebe ihrer Schafe auszunutzen", ist schon ein ziemlich weiter Denkschritt, den man erstmal machen muss. Ich würde soweit gehen, ihn schon als Verschwörungstheorie zu bezeichnen. Denn vermeintliche Belege dafür muss man erstens lange suchen oder erfinden und zweitens widersprechen sie allen öffentlichen Aussagen. Wer dann sagt, dass die Belege eben geheim und im Hintergrund liegen, hat Ockham's Rasiermesser im Schrank gelassen und sich die typische Argumentationsweise von Verschwörungstheoretikern zu eigen gemacht.

Ich wünsche euch und Ihnen ein gesegnetes Wochenende!


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