Erzähl mir was

Spiritus-Blog
Erzähl mir was
Geschichten machen stark, sie kommen zu mir wie Personen, die meine Welt erhellen.

Erzähl mir was

Maria, die Verlobte des Josef, klettert aus der Reihe der Buchstaben des dicken Bibel-Buches heraus, zieht sich das Blaugeblümte zurecht und geht wie jeden Abend in das kleine Hotel am Bahnhof. Sie wird dort zwischen zwei milchig gelben Lampen hinter der Rezeption sitzen und verliebte Paare, Betrunkene und Geschäftsleute empfangen. Bis morgens um sechs.

Alles um uns herum erzählt. Der Bürostuhl, auf dem ich schreibe könnte berichten, wie er entstand. Kinder möchten so etwas wissen. Hat Klopapier Gefühle? Wer hat es gewickelt und wie? Woher komme ich? Was kommt danach?

Seit Menschen sprechen können, teilen sie mit anderen Menschen Abläufe, Einsichten, Fundorte. Man sagt den Neandertalern nach, sie hätten sich durch Tänze verständigt, wo es im Land genug Essen gibt. Mit-Teilen.

Später werden die Geschichten subtiler. Ein Mann imprägniert sich mit einem besonderen Wasser, er wird unverwundbar. Ein Lindenblatt fällt dabei auf seinen Rücken - da bleibt er verletzlich. Der Traum des Menschen von der starken Haut. Und der Irrtum: niemand ist unverwundbar. Man ahnt: Geschichten entstehen als Antwort auf eine Frage. Hier: Wie kann der Mensch – zu früh und nackt geboren und allem ausgesetzt - bestehen?

Weil Kinder viel fragen, erzählt man ihnen Geschichten. Zb die erste Schöpfungsgeschichte. Die Welt in sieben Tagen. Alles der Reihe nach, erst Himmel, Wasser und Erde, dann Lichter, dann Kraut, später der Mensch. Die Botschaft: Es ist richtig, und es war gut. Das beruhigt das Kindsgemüt. Vor allem ist wichtig, dass einer das alles wollte. Denn was gäbe es Schlimmeres als ungewollt und zufällig zur Welt zu kommen - vielleicht gar nicht richtig zu sein auf Erden. Die Antwort auf diesen Urzweifel ist die Religion. Und die besteht aus lauter Geschichten. Die sagen, warum etwas so sein muss und wie es entstand.

Dann hat es durchs 1000fache Erzählen Geschichte: Das Volk Israel zb. Es erzählt sich selber, warum es da wohnt, wo es jetzt wohnt. Weil es immerzu angefeindet wurde. Die Geschichten geben dem Volk Geschichte und einen Ort. So verbinden sich Zeit und Raum: die Erzählung sichert den Lebensraum.

Es kommt ein kleiner Junge allein ins Foyer. Der wohnte schon letzte Woche mit seiner Familie hier - Flüchtlinge aus Afghanistan. Er reicht kaum über den Tresen und spricht nicht. Bescheiden, aber bestimmt tritt er heran und legt einen Euro auf den Tisch. Maria schaut in seine tiefschwarzen Augen, als schaue ein uraltes Wesen aus ihm heraus. Sie erschrickt ein wenig. „Was möchtest du?“ – Der Junge zeigt am Tresen vorbei in Richtung Speiseraum. Er geht ein paar Schritte um den Tresen herum. „Willst du da hin? Hast du was vergessen?“ Er stellt sich vor die verschlossene Tür. Sie öffnet, und er tritt vor ihr ein. Sie macht Licht. Er geht in die Ecke am Fenster. Dort bleibt er stehen vor einem Holzengel, der an einer schmalen Kette von der Decke hängt. Schaut ihn an. Maria bleibt in der Tür stehen. Ihr kommen Tränen.

So geht es auch in der Familie. Papa erzählt, wie er und Mama sich kennengelernt und sich ein Kind gewünscht haben, „nämlich Dich, Benjamin“. In Wahrheit ist es ihnen zu früh passiert, aber später erzählen sie sich und allen, es sei so gewollt gewesen. Denn dann können alle Beteiligten besser schlafen. Gute Geschichten machen Sinn und bestätigen, dass man richtig ist auf der Welt. Das ist der Grund, warum so viele Erinnerungen umgeformt, manchmal fast erfunden werden. Man will, dass es so war. Damit aus damals und jetzt ein Reim wird.

So steht er dort und schaut empor. Nach einer Zeit beginnt er eine Melodie zu singen. Das erste Mal, dass sie seine Stimme hört, rau wie Erdreich. Nicht Kind, nicht Erwachsener - ein Drittes. Stille. Dann spricht er etwas. Es klingt wie eine Litanei, etwas Auswendiges. Dann ein paar Namen.

Er rückt sich einen Stuhl zurecht, steigt drauf und tippt ganz fein gegen den Engel. Der beginnt leis zu schwingen. Stellt den Stuhl zurück und geht rückwärts aus dem Raum, wendet sich an der Tür um zu Maria. Sieht sie weinen. Er geht ein paar Schritte zurück, nimmt Anlauf und wirft sich mit ausgebreiteten Armen aus vollem Lauf gegen sie, sein Kopf liegt vor ihrem Bauch. Sie hält ihn. Er sie. So stehen Sie nun bis in Ewigkeit.

Am anderen Morgen kehrt Maria zurück aus der Rezeption in ihr altes Buch. Nimmt darin Platz in ihrer Kammer, wo sie den Engel treffen wird, der ihr sagt, was Gott mit ihr vorhat.

Biblische Geschichten sind Extrakte: Auf kleinstem Raum wird ein Leben gedreht, Speichel bewirkt im Nu Heilung, eine Frau besucht ein Grab und nach ein paar Minuten ist ihr Leben umgekrempelt. Wer das liest oder in der Kirche hört, bekommt Leben im Zeitraffer um die Ohren. Im Lukas-Evangelium hört man von einer Frau, die in einer Begegnung ganz anders zu sich und zu Gott findet als je zuvor. Ja sogar mehr als irgendein anderer Mensch zuvor. Die Bibelsprache erwähnt einen Engel und eine wesentliche Geburt.

Leute wie ich aus dem 21. Jahrhundert lesen das und fragen sich: Welcher Wirklichkeit entspricht so etwas heute? Warum wurde diese Herkunft Jesu so beschrieben? Was würde Maria heute erleben, wenn etwas ungeahnt Aufregendes auf sie trifft? Diese Bibel wird ja gegenüber unserem Leben immer älter und entlegener. Aber wenn man versucht sich in das Gemüt der Maria vorzutasten, wenn man ihre offene Ratlosigkeit samt ihrem stillen Wissen ahnt, dann kommen neue Geschichten zutage – vielleicht solche wie die hier als Text im Text. Wo der neue Orient die Frau an der Hotel-Rezeption trifft, die dem alten Orient im Bibelbuch entstiegen ist. Wo das Geheimnis rau klingt und man erschrickt vor der Ungleichzeitigkeit der Personen. Wie damals. Dann beginnt alles von vorn, und man ist gespannt wie es ausgeht.

 

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