Vom Hinterhof in die Freiheit

Druckmaschine
© Josefine Janert
Foto einer Druckmaschine. In einem Keller der Greifswalder Straße im Berliner Ortsteil Prenzlauer Berg befand sich die geheime Druckerei der Berliner Bischofskonferenz.
Vom Hinterhof in die Freiheit
"radix-blätter" hieß eine Zeitschrift der DDR-Opposition. Sie widmete sich Umweltproblemen, Ausländerhass und anderen Themen, die in den offiziellen DDR-Medien nicht vorkamen. Evangelische und katholische Christen arbeiteten in schöner ökumenischer Eintracht daran, dass 20 Ausgaben erscheinen konnten.

Die Greifswalder Straße im Berliner Ortsteil Prenzlauer Berg ist eine dicht befahrene Ausfahrtstraße. Straßenbahnen und Autos rauschen an einer Häuserfront vorbei, hinter der ein Fremder wohl kaum eine katholische Kirche vermuten würde. Doch auf dem Hinterhof der Nummer 18 A befindet sich ein katholisches Refugium, bestehend aus einem Gotteshaus und dem katholischen Schulzentrum Edith Stein.

Dreizehn ausgetretene Stufen führen hinab in den Keller. Hier und da blättert grünliche Farbe ab. Über einen kurzen Flur gelangt man in einen Raum mit Holztischen. In den Regalen stehen Keramiken, und an den Wänden hängen Handpuppen. Wo heute ganz legal kunsthandwerklich gearbeitet wird, ging in der DDR eine handvoll Menschen einer konspirativen Tätigkeit nach. In diesem Keller befand sich die geheime Druckerei der Berliner Bischofskonferenz.

Ohne Genehmigung durch die Staatsmacht druckten sie kirchliche Publikationen und auch Texte, die nur unter der Hand weitergereicht wurden. Auch ein Student der evangelischen Theologie arbeitete hier: Dirk Sauermann. Der langhaarige junge Mann hatte sich unter einem Vorwand von seinen Seminaren beurlauben lassen, um an den "radix-blättern" mitzuwirken, einer Zeitschrift der DDR-Opposition. Von 1986 bis 1990 erschienen 20 Ausgaben.

"Meine Motivation war, mich aus dieser geistigen Zwangskollektivierung zu befreien", sagt Sauermann, der heute Probst in Mecklenburg ist. Seine Versuche, an seiner Schule und an anderen Orten offen über die Zustände in der DDR zu reden, hätten dazu geführt, dass er ausgegrenzt wurde. Unter den Machern der "radix-blätter" habe er endlich interessierte Gesprächspartner gefunden.

Portrait von Dirk Sauermann

Papier war in der DDR Mangelware. Wo auch immer die Redaktionsmitglieder in einem Schreibwarenladen welches sahen, griffen sie zu und beschafften sich den Rest auf teils abenteuerlichen Wegen. Auch die Vorräte der katholischen Geheimdruckerei durften sie nutzen. Dirk Sauermanns Job im Keller bestand darin, das Papier an einer Schneidemaschine ins richtige Format zu bringen. Musste sein Werkzeug mal geschliffen werden, brachte er es heimlich in die Druckerei, wo auch das SED-Zentralorgan "Neues Deutschland" produziert wurde. Er hatte so seine Kontakte. Hätte die Staatssicherheit ihn oder seine Mitstreiter erwischt, wären sie sicher inhaftiert worden.

Da die "radix-blätter" Auflagen von bis zu 25.000 Stück erreichten, hatte Dirk Sauermann alle Hände voll zu tun. Er lud das Papier in einen "Trabant", den die Redaktion vom evangelischen Theologen Manfred Stolpe geliehen hatte. Sauermann lenkte die "Rennpappe", wie das Fahrzeug in der DDR liebevoll genannt wurde, nach Berlin-Kaulsdorf. In der Ferdinandstraße 4 wurde die Zeitschrift heimlich gedruckt.

Dirk Sauermann spricht über seine Motivation, an den Blättern mitzuarbeiten.

Die Oppositionellen Charlotte und Peter Bickhardt hatten der Redaktion dafür ein kleines Zimmer zur Verfügung gestellt, das an ihr Schlafzimmer grenzte. Hier wurden in vier Jahren sagenhafte 120.000 Blätter bedruckt. Anschließend wurden die "radix-blätter" auf konspirativem Weg unters Volk gebracht. "Leute aus anderen Städten kamen, zahlten uns hundert DDR-Mark und luden sich ihren Rucksack voll", erzählt Stephan Bickhardt, Sohn von Charlotte und Peter und ebenfalls evangelischer Theologe. Die Zwischenhändler verkauften das Blatt weiter – für fünf bis zehn DDR-Mark je Exemplar. Davon wurden die Produktionskosten bestritten. "Wir fuhren auch zu Kirchentagen, auf mobile Friedensseminare nach Mecklenburg und zu anderen Veranstaltungen", sagt Bickhardt. Die "radix-blätter" wurden in der Kirche, in Familien und unter Freunden weitergereicht.

136 Autorinnen und Autoren schrieben von 1986 bis 90 für das Blatt. Sie veröffentlichten Berichte, Essays und Interviews, Gedichte und Aufrufe – eine ganze Bandbreite an Textsorten. Künstler illustrierten die Zeitschrift, die sorgfältig redigiert und aufgemacht war. Thematisch hatten es die "radix-blätter" in sich. Hier konnte man Artikel über Probleme lesen, die in den offiziellen DDR-Medien zumeist totgeschwiegen wurden – über die Umweltzerstörung, über Ausländerhass und Neonazis im "Arbeiter- und Bauernstaat", über die unabhängige polnische Gewerkschaft Solidarność.

Artikel unter Klarnamen

Die Redaktion war mit Dissidenten in anderen Ostblock-Staaten vernetzt und lud diese bisweilen ein, für die "radix-blätter" zu schreiben. So findet sich auf der Liste der Autoren Adam Michnik, Redakteur verschiedener polnischer Untergrundzeitschriften und heute Chefredakteur der liberalen Tageszeitung "Gazeta Wyborcza". Alle "radix"-Autoren zeichneten ihre Artikel mit ihrem Klarnamen. So wusste die DDR-Staatsmacht zwar, wer da schrieb und dass das Blatt in der gesamten DDR und darüber hinaus gelesen wurde. Doch bis zum Zusammenbruch des "Arbeiter- und Bauernstaates" bekam der Sicherheitsapparat nicht heraus, wo die "radix-blätter" gedruckt wurden.

"Radix" ist übrigens ein lateinisches Wort und bedeutet Wurzel. Und so sah die Redaktion in ihrer Zeitschrift eine Wurzel für ein demokratisches Gesellschaftssystem. Die Autoren forderten Meinungs- und Pressefreiheit und andere demokratische Grundrechte. Pfingsten 1988 publizierte die Redaktion einen Aufruf, die Wahlen in der DDR ernst zu nehmen und sich daran zu beteiligen – nach Möglichkeit eigene Kandidaten aufzustellen und bei der Auszählung der Stimmzettel anwesend zu sein. "Diese Idee kam von den Machern der ‚radix-blätter‘", sagt der Journalist Peter Wensierski, der die Geschichte der Zeitschrift erforscht hat. Dem Aufruf wurde bei den Kommunalwahlen im Mai 1989 massenhaft Folge geleistet. "Dieser Nachweis der Wahlfälschung war ein absoluter Sargnagel, der Ende 1989 in dieses marode System geklopft worden ist", sagt Wensierski.

Heinz-Josef Durstewitz, Chef der geheimen katholischen Druckerei der Berliner Bischofskonferenz, spricht über Angst in der Diktatur und weshalb er Angst um "seine Mitarbeiter" in der Druckerei hatte.

Der Westjournalist reiste ab den siebziger Jahren häufig in der DDR und lernte viele Oppositionelle schon damals persönlich kennen. Nun hat er ein spannendes Buch über die "radix-blätter" veröffentlicht, "Fenster zur Freiheit". Darin kommen zahlreiche Zeitzeugen zu Wort – auch Dirk Sauermann, Stephan Bickhardt und Heinz-Josef Durstewitz, Leiter der katholischen Geheimdruckerei in der Greifswalder Straße. Dass sich heute Menschen für die konspirative Arbeit interessieren, sei "einerseits eine Würdigung unseres Bekennermutes", sagt der katholische Priester Durstewitz. "Andererseits ist es eine Ermutigung für heute. Man sagt schnell: Als Einzelner kann man sowieso nichts machen. Das stimmt nicht!"