Missbrauch: "Situation der Opfer muss an erster Stelle stehen"

Missbrauch: "Situation der Opfer muss an erster Stelle stehen"
Am Freitag berät der von der Bundesregierung einberufene Runde Tisch erstmals über die Aufarbeitung der Fälle sexuellen Missbrauchs in weltlichen und kirchlichen Einrichtungen. Auch die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) ist in dem Gremium vertreten. Über Entschädigungsfragen, Hilfen für die Opfer, die Verfolgung der Täter und die Diskussionen in der katholischen Kirche sprach epd-Chefredakteur Thomas Schiller mit dem amtierenden EKD-Ratsvorsitzenden, Präses Nikolaus Schneider.
21.04.2010
Die Fragen stellte Thomas Schiller

Frage: Seit Wochen kommen immer neue Missbrauchsfälle in Heimen, Schulen und auch in kirchlichen Einrichtungen ans Tageslicht. Wie viele Missbrauchsfälle sind im Bereich der Evangelischen Kirche bekannt geworden?

Schneider: Die Datenlage ist in den 22 Landeskirchen der EKD unterschiedlich, je nach dem wie zentral oder dezentral die jeweilige Gliedkirche organisiert ist. Für den Bereich des Pfarrdienstes gehen wir von insgesamt 28 Fällen von Missbrauchsverdacht aus den letzten acht Jahren aus. Darin eingeschlossen sind auch einige Fälle, in denen die Staatsanwaltschaft das Verfahren eingestellt hat, weil eine Straftat nicht nachzuweisen war, oder sich die Unschuld des Beschuldigten erwies.

Frage: In der Kritik sind sowohl sexuelle Übergriffe als auch autoritäre Erziehungsmethoden mit körperlicher Züchtigung. Wird dies in der öffentlichen Diskussion hinreichend differenziert?

Schneider: Manche differenzieren sehr genau, andere werfen alles durcheinander. Wichtig ist, dass man sehr wohl differenziert, aber auch sieht, dass es Übergänge gab zwischen Gewaltanwendung und sexuellem Missbrauch. Auch sexueller Missbrauch ist eine Gewaltanwendung, weil die körperliche Unversehrtheit eines Menschen verletzt wird. Es wird ein Abhängigkeitsverhältnis missbraucht für eine Überwältigung – physisch und auch psychisch.

"Kinder erzieht man nicht durch Schläge"

Frage: Der Einsatz von Rohrstock und Ohrfeigen verschwand erst in den 60er Jahren aus dem Schulalltag. Wie sah das in der Nachkriegszeit in evangelischen Schulen, im Religions- oder Konfirmandenunterricht aus?

Schneider: Wir werden wohl im kirchlichen Unterricht einen Querschnitt der Gesellschaft abgebildet haben. Das Evangelium sagt uns freilich in aller Klarheit, dass wir "niemand etwas schuldig sein" sollen, außer dass wir uns "untereinander lieben" (Römer 13,8). Ich selbst hatte einen Vater, der mit dem Glauben nichts anfangen konnte, aber der sagte: Kinder erzieht man nicht durch Schläge.

Frage: Gab es Zusammenhänge zwischen Erziehungsmethoden und Frömmigkeitsformen?

Schneider: Die Frage nach den Wurzeln oder Motiven bestimmter Erziehungsmethoden ist spannend, aber auch sehr schwierig. Man könnte beispielsweise an soziale oder religiöse Faktoren denken. In diesem Zusammenhang fällt der Blick auch auf biblische Aussagen, insbesondere auf das Sprichwort: "Wer seine Rute schont, der hasst seinen Sohn; wer ihn aber lieb hat, der züchtigt ihn beizeiten" (Sprüche 13,24). Aber man muss sich vor pauschalen und kurzschlüssigen Folgerungen in Acht nehmen.

Frage: Spielte die Heimerziehung eine Sonderrolle?

Schneider: Die Heimerziehung spielte in den 50er und 60er Jahren insofern eine Sonderrolle, als dass in Heimen Verhältnisse entstanden, in denen Kinder und Jugendliche oft schutzlos Übergriffen ausgeliefert waren. Die Heime waren so oft noch weniger der sozialen Kontrolle unterworfen, als dies in der Regel in Schulen der Fall war. Insofern kann es in Heimen besondere Voraussetzungen für Fehlverhalten gegeben haben.

"Man muss schon differenzierter hinschauen"

Frage: Waren Übergriffe ein Teil des Systems?

Schneider: Von der pauschalen These, dass Heimerziehung an sich ein Gewalt- und Unrechtssystem war, halte ich überhaupt nichts. Man muss schon differenzierter hinschauen. Wir wissen aus Untersuchungen, die diakonische Einrichtungen in eigener Initiative unternommen haben, dass es in den 50er und 60er Jahren auch Erzieher, Gruppen und Einrichtungen gegeben hat, in denen ein liebevoller Umgang mit den anvertrauten Kindern und Jugendlichen herrschte. Freilich wissen wir, dass es in vielen Heimen schlimme Übergriffe gegeben hat.

Frage: Die Leiterin des Runden Tisches für Heimkinder, die evangelische Theologin Antje Vollmer, hat am vergangenen Freitag eine Fondslösung zur Entschädigung von Opfern vorgeschlagen. Halten Sie das für sinnvoll?

Schneider: Am Runden Tisch muss man sich klar darüber werden, welche Lösungen mit den vorhandenen Instrumenten umsetzbar sind und welche nicht. Wir müssen dabei sehr sorgfältig darauf achten, welche Begriffe wir verwenden, um nicht Erwartungen zu wecken, die niemand einlösen kann.

"Die Situation der Opfer muss an erster Stelle stehen"

Frage: Am 23. April tritt auf Einladung der Bundesministerinnen für Familie, für Soziales und für Justiz ein weiterer Runder Tisch, nämlich der zum Thema Missbrauch, zusammen. Welche Erwartungen haben Sie an diesen Tisch?

Schneider: Ich hoffe, dass wir uns auf einige Grundsätze verständigen können. Die Situation der Opfer muss absolut an erster Stelle stehen. Das muss sichergestellt sein, bevor Weiteres kommt. Zweitens: keine Toleranz gegenüber Tätern. Punkt drei: klare und vorbehaltlose Kooperation mit der Justiz. Meine vierte Forderung: Es müssen Konsequenzen gezogen werden. Kinder und Jugendliche müssen in der Erziehung so stark gemacht werden, dass sie sich wehren können. In Schulklassen und in Einrichtungen der Erziehungshilfe muss die Sache Thema sein. Darüber muss geredet werden. Dies ist schon ein wichtiger Schritt zur Prävention. Fünftens schließlich muss die Frage schon bei der Personalauswahl aufgenommen werden, und sie muss in der Ausbildung von Erzieherinnen und Erziehern sowie von Lehrerinnen und Lehrern eine Rolle spielen. Die evangelische Kirche muss um ihres Anspruchs willen ein eigenes Interesse haben, aufzuklären und dann präventiv zu arbeiten.

Frage: Wer wird am Runden Tisch die evangelische Kirche vertreten?

Schneider: Wir haben uns so verständigt, dass zunächst Prälat Bernhard Felmberg, der Vertreter der EKD bei der Bundesregierung, diese Aufgabe wahrnimmt.

Frage: Sie nennen die Punkte Aufklärung und Opferorientierung. Rechnen Sie damit, dass die katholische Kirche am Runden Tisch andere Positionen vertreten wird als die EKD?

Schneider: Davon gehe ich nicht aus.

"Jede Kirche muss selbst ihre Aufarbeitung leisten"

Frage: Gab es eine Vorabstimmung zwischen EKD und Bischofskonferenz?

Schneider: Wir werden bald ein Gespräch miteinander haben, allerdings erst nach der ersten Sitzung des Runden Tisches.

Frage: Sehen Sie die katholische Kirche beim Thema Missbrauch grundsätzlich in einem anderen Maß betroffen als die evangelische Kirche?

Schneider: Jede Kirche muss selbst ihre Aufarbeitung leisten und die Konsequenzen daraus ziehen.

Frage: Der Augsburger Bischof Walter Mixa steht in der Kritik, er hat sich in Widersprüchlichkeiten verstrickt. Der sächsische evangelische Bischof Jochen Bohl hat Mixa den Rücktritt nahe gelegt. Sehen Sie das auch so?

Direktes Gespräch mit Mixa

Schneider: Es hat mich sehr beruhigt zu hören, dass der Vorsitzende der katholischen Deutschen Bischofskonferenz, Erzbischof Robert Zollitsch, im direkten Gespräch mit Bischof Mixa ist.

Frage: Was würden Sie ihm empfehlen, wenn er ein evangelischer Amtsbruder wäre?

Schneider: Ob evangelischer oder katholischer Amtsbruder – ich würde ihm jedenfalls keine Empfehlung über ein Interview geben.


Dr. Thomas Schiller ist Chefredakteur des Evangelischen Pressedienstes (epd). Das Interview mit Nikolaus Schneider ist ursprünglich in der Zentralausgabe des epd erschienen.