Deutschland fehlt eine öffentliche Trauerkultur

Deutschland fehlt eine öffentliche Trauerkultur
Deutsche Soldaten kommen in Särgen aus Afghanistan zurück. Aber das Land hat noch keinen Weg gefunden, die Kritik am Krieg und die öffentliche Trauer zu verbinden.
06.04.2010
Von Isabel Guzmán

Im Jahr 2009 hatte der Tod 108 Gesichter. Der Fernsehsender BBC hat die Fotos gesammelt: David Watson, 23 Jahre. Loren Marlton-Thomas, 28 Jahre. Phillip Lawrence, 22 Jahre. Der Sender hat eine Internet-Gedenkseite für alle britischen Soldaten erstellt, die während des Afghanistan-Einsatzes ums Leben kamen. Angehörige senden dort letzte Grüße, Politik- und Armeevertreter würdigen jeden Gefallenen.

Im Vergleich zu seinen europäischen Nachbarn schenke Deutschland dem Schicksal seiner Soldaten sehr wenig Beachtung, hatte der Bundestags-Wehrbeauftragte Reinhold Robbe kürzlich in seinem Jahresbericht festgestellt. Zwar gibt es das neue Ehrenmal der Bundeswehr in Berlin, das auch an die sechs Afghanistan-Toten von 2009 erinnert. Dennoch sei die öffentliche und politische Trauerkultur in Deutschland sehr wenig entwickelt, unterstreichen Experten.

"Verschämte Ersatzlösungen helfen nicht weiter"

Angesichts der steigenden Zahl von Bundeswehr-Einsätzen sei dies bedenklich, meint etwa Manfred Hettling, Professor für Neuere Geschichte an der Universität Halle-Wittenberg. "Deutschland darf die Augen vor der Wirklichkeit nicht verschließen." Sicherlich verhindere die deutsche Vergangenheit, dass sich Modelle anderer Länder einfach übertragen ließen, sagt er. "Aber verschämte Ersatzlösungen helfen auch nicht weiter."

In Großbritannien etwa gibt es seit gut zehn Jahren die Gedenkstätte "Arboretum", einen weiträumigen Park bei Lichfield in Staffordshire. Zehntausende Bäume stehen dort, gepflanzt für die Toten seit 1945. Das können gefallene Soldaten sein, Feuerwehrleute, Ärzte, humanitäre Helfer. "Entscheidend ist, dass Arboretum ein Projekt der Zivilgesellschaft ist", sagt Hettling.

Der "Goldene Hain" zum Beispiel wurde von Paaren gespendet, die im Zweiten Weltkrieg geheiratet hatten und in den 90ern Goldene Hochzeit feierten. Auch in Großbritannien gebe es heftige Debatten über Militäreinsätze, unterstreicht der Historiker. "Die Briten trennen aber scharf zwischen politischem Streit und der Solidarität mit den Soldaten und ihren Angehörigen."

Vietnam-Denkmal: "Ein säkularer Pilgerweg"

In den Niederlanden ist die politische Gedenkkultur noch jung. Der 4. Mai ist den Toten des Zweiten Weltkriegs gewidmet, aber auch allen anderen Bürgern, die in Kriegen oder Friedenseinsätzen starben. Der Rückhalt in der Bevölkerung ist enorm: 80 Prozent halten laut Umfragen ein solches Gedenken für wichtig. In Deutschland wäre diese Verknüpfung von Geschichte und Aktualität wegen der NS-Vergangenheit freilich nicht möglich, sagt Hettling.

Während in Frankreich die Trauerkultur zumeist staatlich organisiert ist, wird sie in den USA von Gemeinden, Familien und vielen anderen Akteuren hochgehalten. Dabei müssten heroisierende Tendenzen hinterfragt werden, so der emeritierte Geschichtsprofessor Jost Dülffer aus Köln. Gelungen sei aber zum Beispiel das Vietnam-Denkmal in Washington: "Man spiegelt sich im blanken schwarzen Stein und kann damit seine eigene Vergänglichkeit wahrnehmen." Die Stätte ist halb unterirdisch angelegt: "Ein säkularer Pilgerweg."

Gesellschaftliche Relevanz unterstreichen

Wie Deutschland das Problem seiner fehlenden politischen Gedenkkultur angehen kann, ist keine einfache Frage. Ein erster Schritt wäre gewesen, einen anderen Standort für das Ehrenmal der Bundeswehr zu suchen, meinen Hettling und Dülffer. Es hätte nicht beim Verteidigungsministerium, sondern beim Bundestag gebaut werden sollen, um die gesellschaftliche Relevanz zu unterstreichen - und von der militärischen Kameradenehrung zu einer staatsbürgerlichen Würdigung zu gelangen.

Vor allem brauche es eine intensivere Debatte, sagt Hettling: "Fast alle Akteure im öffentlichen Raum scheuen das Thema." Der Wehrbeauftragte Robbe fordert allgemein mehr Rückhalt für Bundeswehrangehörige und sieht neben der Politik auch "Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände, die Protagonisten aus Kultur und Wissenschaft sowie die Kirchen" in der Pflicht. Auf diese Weise sei es möglich, "die für die Soldaten unbefriedigende Situation zu verbessern", glaubt er.

epd