Mit dem Kreuz von Abu Tin durch Jerusalem

Mit dem Kreuz von Abu Tin durch Jerusalem
Ein junger Araber verleiht am Karfreitag Holzkreuze an Pilger, die in der Jerusalemer Altstadt das Leiden Jesu nachempfinden wollen. Das Besondere: Sie sind Christen, der Kreuzverleiher Muslim.
29.03.2010
Von Marlene Halser

Arafat Saleh Abu Tin schultert das Kreuz. Es ist früh am Morgen, und die ersten Pilger werden gleich eintreffen. Die Mitglieder einer polnischen Reisegruppe wollen den Kreuzweg Jesu in der Altstadt von Jerusalem abschreiten - genau wie einst der zum Tode verurteilte Messias. Der 30-jährige Araber mit der Prada-Sonnenbrille arbeitet als Kreuzverleiher. Abu Tins Kunden sind Pilger, die sich vorgenommen haben, die Leiden Jesu möglichst realitätsnah nachzuempfinden.

Seit seinem 16. Lebensjahr verleiht Abu Tin Kreuze. Er hat den Beruf von seinem Vater geerbt. Dieser übernahm die Aufgabe von einem christlichen Armenier. Seither ist der Kreuzverleih in muslimischer Hand. Etwa 30 Kreuze stehen in Abu Tins Lagerraum, einige größere, dunkel und abgegriffenen, die meisten aber aus glänzend lackiertem Olivenholz, zwei Meter hoch. "Gerade haben wir zehn neue Kreuze aus Bethlehem bekommen", sagt er. "Dort bringen wir einem christlichen Schreiner das Olivenholz, und er bearbeitet es umsonst."

Job sichert Zugang zur Stadt

Auch der Kreuzverleih in Jerusalem ist kostenlos. Abu Tin verkauft nur die Fotos, die er von den Touristen macht. Kein besonders lukratives Geschäft, wie er sagt. "Ich verlange zwei bis drei Dollar für ein Bild." Je nach Gruppe verkaufe er fünf bis zehn Bilder. Trotzdem will Abu Tin seinen Job nicht aufgeben. Der Araber lebt in einem palästinensischen Flüchtlingslager. Seine Familie, die zuvor im jüdischen Teil der Jerusalemer Altstadt gewohnt hatte, musste die Stadt nach dem Sechstagekrieg 1967 verlassen. Der Kreuzverleih sichert dem Palästinenser die Zugangsberechtigung in die Heilige Stadt.

Während Abu Tin (Foto links) erzählt, hat sich die polnische Pilgergruppe auf den Holzbänken in der Verurteilungskapelle niedergelassen, wo Jesus von Pontius Pilatus sein Todesurteil erhalten haben soll. Ein Geistlicher, der die Gruppe begleitet, liest aus der Bibel vor, die Pilger beten und knien nieder. Dann hilft Abu Tin den ersten beiden Gläubigen, das Kreuz zu schultern. Es wiegt etwa 30 Kilo. Einer legt sich die Querverstrebung über die Schulter, ein anderer packt am Ende mit an.

Dann schnappt er sich die Kamera

Pilger aus aller Welt nehmen Abu Tins Dienste in Anspruch. "Die meisten kommen aus Italien und Spanien", sagt er. "Und die Koreaner verlangen immer nach den größten Kreuzen." Dann schnappt er sich die Kamera und überholt die polnische Gruppe, die singend die Straße Richtung Grabeskirche davonzieht. Er knipst ein paar Bilder und hilft dem nächsten Pilgerpaar, das Kreuz zu schultern. Jeder Teilnehmer soll das Kreuz einige Meter tragen.

"Ich will den Spuren Jesu folgen", sagt Artur, der zu der Reisegruppe gehört. Eine gute Woche sind die Pilger aus dem polnischen Radom bereits in Israel. Sie waren schon in Nazareth und Bethlehem. Doch den Kreuzweg in Jerusalem zu beschreiten, sei etwas ganz Besonderes, sagt der 50-Jährige. "Ich versuche zu fühlen, was Jesus damals gefühlt haben muss", erklärt er. "Dieselbe Straße, dieselben Menschen. Das wird meinen Glauben stärken."

30.000 Pilger aus aller Welt

Zu Ostern ist der Pilgerandrang in Jerusalem groß. 30.000 Christen aus aller Welt erwartet das israelische Tourismusministerium in diesem Jahr. Abu Tin ist darüber nicht sehr glücklich. "Mir ist es lieber, wenn ich nur acht bis zehn Gruppen am Tag habe", sagt er. "Ich kann es nicht leiden, wenn so viele Menschen auf der Straße sind." Schon jetzt muss der 30-Jährige, der mit gegelten Haaren und schwarzer Jacke aussieht wie ein Leibwächter, den Weg für die Kreuzprozession frei machen. Während die Pilger andächtig singend die engen Gassen der Altstadt entlang ziehen, führt er sie vorbei an den Souvenirläden und Geschäftemachern, bahnt ihnen einen Weg durch die Ströme anderer Pilger und Touristen.

An der Grabeskirche lehnen die Pilger das Kreuz an eine Mauer. Ein Mitarbeiter des Kreuzverleihers wird es von dort wieder in den Lagerraum bringen. Während die Polen weiterziehen, um die letzten fünf der 14 Stationen des Kreuzwegs zu besuchen, eilt Abu Tin zurück zum Ausgangspunkt. Dort wartet bereits eine Pilgergruppe aus dem indischen Kerala auf ihn.

epd