Sexualisierte Gewalt: Kirche lässt Opfer nicht allein

Sexualisierte Gewalt: Kirche lässt Opfer nicht allein
Der Missbrauchsskandal an Jesuitenschulen in Deutschland erschüttert die Öffentlichkeit. Doch auch in der evangelischen Kirche gibt es sexuelle Übergriffe. Im jüngsten Fall wird einem Kantor und Gemeindepädagogen im schleswig-holsteinischen Geesthacht vorgeworfen, ein 14-jähriges Mädchen unsittlich berührt zu haben. Die Kriminalpolizei ermittelt. Mittlerweile hat sich ein zweites mögliches Opfer gemeldet. Wie geht die Nordelbische Evangelisch-Lutherische Kirche (NEK) mit dem Thema um, welche Hilfe erhalten die Opfer, was wird vorbeugend getan? Fragen an Stephanie Meins, Gleichstellungs- und Genderbeauftragte der NEK.
19.02.2010
Die Fragen stellte Bernd Buchner

evangelisch.de: Frau Meins, auch in der evangelischen Kirche gibt es Fälle von sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen, wie jüngst in Geesthacht in Schleswig-Holstein. Was ist dort passiert, was weiß man bisher?

Meins: Alle vorhandenen Informationen zum Vorwurf der sexualisierten Gewalt durch einen Kantor der Kirchengemeinde Geesthacht hat unsere Presse- und Öffentlichkeitsarbeit direkt an die Medien weitergeleitet. Deshalb gibt es von unserer Arbeitsstelle keine weiteren Informationen.

evangelisch.de: In welchem Rahmen sind Sie mit Fällen von sexuellem Missbrauch betraut?

Meins: Thomas Schollas, der mit mir gemeinsam in der Gender- und Gleichstellungsstelle arbeitet, und ich sind Mitglieder am "Runden Tisch gegen sexualisierte Gewalt in Kirche und Diakonie", der sich vor acht Jahren gegründet hat. Gemeinsam mit den Mitgliedern dieses Runden Tisches wurde die Handreichung "Verantwortliches Handeln in Fällen von sexualisierter Gewalt" für Leitungspersonen erarbeitet. Ferner wurden Materialien für Fortbildungen zu diesem Thema entwickelt. Unsere Fortbildungsveranstaltungen richten sich sowohl an Vikarinnen und Vikare als auch an verantwortlich handelnde Personen in unserer Kirche. Eine offizielle kirchliche Anlaufstelle für Betroffene ist unsere Arbeitsstelle nicht.

Genaue Zahlen gibt es nicht

evangelisch.de: Wie viele Fälle werden an Sie herangetragen, gibt es eine Dunkelziffer?

Meins: In diesem Jahr wurde der Fall eines Pastors in Hamburg-Rahlstedt bekannt, der kinderpornographische Dateien auf seinem Computer gespeichert hatte. Die Staatsanwaltschaft Hamburg ermittelt. Da wir keine "Meldestelle" oder zentrale Anlaufstelle in unserer Kirche sind, werden uns natürlich nicht alle Fälle gemeldet, so dass es für uns nicht möglich ist, genaue Zahlen zu nennen. Dies ist zum Teil auch in der Struktur unserer Kirche begründet, in der unterschiedliche Anstellungsträger sowohl auf Kirchenkreis- als auf landeskirchlicher Ebene vorhanden sind.

evangelisch.de: Sexuelle Übergriffe berühren ein sehr sensibles Feld. Die Wahrnehmung von Opfer und Täter unterscheiden sich oft gravierend. Wie geht man damit um, um der "Wahrheit" auf die Spur zu kommen?

Meins: In der Tat ist das Feld sehr sensibel. Ein erster Grundsatz für das Gespräch mit einem möglichen Opfer ist, die Gefühle und die geschilderten Erfahrungen ernst zu nehmen und behutsam nachzufragen, um sich ein Bild vom Geschehen zu machen. Eine Würdigung und Ermutigung der Betroffenen kann die Bereitschaft unterstützen, auch über schambesetzte Ereignisse zu reden. Wenn sich ein Verdacht einstellt, sollten unverzüglich die entsprechenden Stellen - Dienstvorgesetzte, Opferberatungsstellen, Polizei, Staatsanwaltschaft - informiert werden. Zeitnah ist den potentiellen Tätern und Täterinnen die Möglichkeit zu geben, zu den Vorwürfen Stellung zu nehmen.

Thema in der Öffentlichkeit sichtbar machen

evangelisch.de: Was kann die Kirche den Opfern anbieten, welche Möglichkeiten hat sie?

Meins: Mit ihren Beratungsstellen und –angeboten kann die Kirche Opfern sexualisierter Gewalt professionelle Hilfe anbieten: Therapeutische Begleitung und Beratung, Seelsorge oder auch Vermittlung von spezialisierten außerkirchlichen Hilfsangeboten. Seit einigen Jahren gibt es in Hamburg und Schleswig-Holstein zum Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen Gottesdienste für von sexualisierter Gewalt betroffene Frauen und solchen, die sich mit ihnen solidarisieren. Diese und viele andere Aktionen, mit denen in den vergangenen Jahren das Thema sexualisierte Gewalt in der Öffentlichkeit sichtbar gemacht worden ist, kann Opfer ermutigen, ihr Schweigen zu brechen und aus einer passiven Opferrolle herauszutreten. Kirche kann den Betroffenen Räume öffnen, in denen sie sich mit anderen verbunden wissen, Stärkung erfahren und sprachfähig werden. Thematisierung der Problematik und damit die Enttabuisierung ist eine der wichtigsten präventiven Maßnahmen.

evangelisch.de: Sie haben die Broschüre "Verantwortliches Handeln bei Fällen von sexuellem Missbrauch" erwähnt. An wen richtet sich diese?

Meins: Sie richtet sich in erster Linie an Leitungspersonen in Kirche und Diakonie - Pastorinnen und Pastoren, Kirchenvorstände -, die mit Verdachtsfällen konfrontiert werden und natürlich angemessen reagieren müssen. Es geht um die Hilfe für Opfer und den angemessenen Umgang mit Tätern und Täterinnen. Dabei handelt es sich jedoch nur um einen raschen Überblick. Die besonderen Umstände eines jeden Falles müssen gründlich geprüft und entsprechend berücksichtigt werden.

evangelisch.de: In der katholischen Kirche ist oft zu hören, es handele sich nicht nur um ein kirchliches, sondern ein allgemein gesellschaftliches Problem. Teilen Sie diese Auffassung?

Meins: Diese Feststellung ist natürlich richtig, aber sie muss, um der Problematik gerecht zu werden, differenziert werden. Sexualisierte Gewalt wird durch Strukturen gefördert, die rigide oder diffuse Grenzen haben. Die Strukturen kirchlicher Einrichtungen wären also jeweils genau so in den Blick zu nehmen wie die anderer gesellschaftlicher Organisationen. Dabei werden die kirchlichen Spezifika wie etwa die Rolle und Position katholischer Priester oder auf evangelischer Seite die ehrenamtliche Leitungsstruktur im Hinblick auf das Thema sexualisierte Gewalt besonders zu berücksichtigen sein. Täter und Täterinnen versuchen häufig sehr gezielt, zum Teil lang vorbereitet, Räume zu schaffen, in denen sie sexualisierte Gewalt ausüben können, ohne dass sie sofort fürchten müssen, entdeckt zu werden.


Die Gleichstellungs- und Genderstelle der Nordelbischen Kirche hat vielfältige Aufgaben. Sie führt die Geschäfte im Konzeptions- und Umsetzungsprozess des Gender-Mainstreaming-Verfahrens in der NEK; sie überprüft Vorlagen für Kirchenamt, Kirchenleitung und Synode auf gleichstellungsrelevante Aspekte und Beratung von Gremien in Genderfragen; sie entwickelt Initiativen zur Förderung einer gerechten Gemeinschaft von Frauen und Männern in der Kirche und bringt eigene Vorlagen ein. Zudem bieten die Fachleute Krisenberatung für Pastoren sowie ehren- und hauptamtlichen Mitarbeitenden, begleiten und unterstützen die Gleichstellungsbeauftragten in den Kirchenkreisen und informieren in Gremien und Organisationen auf Anfrage über gleichstellungs- und genderrelevante Themen.

Bernd Buchner ist Redakteur bei evangelisch.de mit Zuständigkeit für die Ressorts Religion und Umwelt.