"Viele kommen das erste Mal im Leben zur Ruhe"

"Viele kommen das erste Mal im Leben zur Ruhe"
Wenn Jugendliche straffällig werden, ist die Haftstrafe im Jugendstrafvollzug oft die letzte Maßnahme in einer Reihe von Verwarnungen, Auflagen und Angeboten der Jugendhilfe. Was aber passiert im Jugendknast? Ein Gespräch mit Hadmut Birgit Jung-Silberreis, Anstaltsleiterin der Justizvollzugsanstalt (JVA) Wiesbaden.
08.12.2009
Die Fragen stellte Ellen Nieswiodek-Martin

Evangelisch.de: Was muss passieren, damit ein Täter zu einer Strafe im Jugendvollzug verurteilt wird?

Hadmut Birgit Jung-Silberreis: Ein Jugendlicher oder Heranwachsender kann durch das Gericht zu einer Jugendstrafe verurteilt werden, wenn das wegen der schädlichen Neigungen, die in der Tat hervorgetreten sind, oder wegen der Schwere der Schuld erforderlich ist. Ein Verurteilter wird, soweit die Strafe nicht zur Bewährung ausgesetzt wird, zum Strafantritt geladen. Der Jugendvollzug ist oft die letzte Maßnahme am Ende eines langen Weges. Zu uns kommen junge Menschen, bei denen vieles schief gegangen ist und die nicht die Kraft hatten, straffrei zu bleiben.

Evangelisch.de: In der JVA Wiesbaden sind zurzeit 260 junge Männer inhaftiert. Wer sind die Täter und was haben sie angestellt?

Jung-Silberreis: Es sind junge Männer zwischen 20 und 24 Jahren, ein großer Teil sind Migranten, bei denen die Integration und häufig die Erziehung nicht gut gelaufen sind. Oft kommen sie aus Ghettos, in denen das Umfeld nicht förderlich ist. Sie haben selten einen Schulabschluss. Die Urteile werden verhängt wegen wiederholter Diebstahlsdelikte, aber auch wegen räuberischer Erpressung, gefährlicher oder schwerer Körperverletzung, selten wegen Totschlags oder Mordes.

Evangelisch.de: Was passiert dann im Jugendvollzug?

Jung-Silberreis: Innerhalb der ersten vier Wochen wird auf der Grundlage des Urteils eine umfassende Diagnostik vorgenommen. Diese umfasst die Vorgeschichte des jungen Gefangenen, sein bisheriges soziales Umfeld und seine Familie sowie seine Persönlichkeit und seine Stärken und Schwächen. In Gesprächen mit dem jungen Gefangenen wird der Förderbedarf ermittelt. Nach den Tests und Untersuchungen durch den allgemeinen Vollzugsdienst, aber auch Ärzte, Psychologen und den Sozialdienst wird dann ein Förderplan erstellt. Dieser legt die Maßnahmen fest, die zu einer Behandlung und Erziehung ergriffen werden, beziehungsweise die Ziele, die angestrebt werden.

Evangelisch.de: Wie könnte ein Ziel während der Haft aussehen?

Jung-Silberreis: Vom ersten Tag an bereiten wir bereits die Entlassung vor, damit die jungen Menschen anschließend die Chance haben, ein Leben ohne Straftaten führen zu können. Die jungen Menschen können den Schulabschluss nachholen oder eine Ausbildung beginnen. Anti-Aggressionstrainings und Coolnesstrainings gehören dazu, auch der Sport spielt eine wichtige Rolle bei uns. In Wohngruppen von bis zu zehn Personen werden sie sozialpädagogisch betreut und sollen soziales Miteinander lernen: Wie löse ich einen Konflikt, wie gehe ich mit anderen um. Manchmal müssen sie zuerst lernen, den Alltag zu gestalten. Die Aufteilung in Wohngruppen ist übrigens eine Errungenschaft des neuen Hessischen Strafvollzugsgesetz, das im Januar 2008 in Kraft trat.

Evangelisch.de: Wie hoch sind die Erfolgschancen?

Jung-Silberreis: Die begleitenden Rückfalluntersuchungen zeigen nach kurzen Haftstrafen unter einem Jahr eine höhere Rückfallquote als bei längeren Haftstrafen ab drei Jahren. Hier haben wir eine Erfolgsquote von mehr als 50 Prozent. Manche brauchen auch einen zweiten oder dritten Anlauf.

Evangelisch.de: Heißt das, es wäre besser, längere Strafen zu verhängen? Sollten wir Ihrer Ansicht nach straffällig gewordene Jugendliche früher und härter bestrafen?

Jung-Silberreis: Für manchen jungen Mann ist der Strafvollzug tatsächlich das Beste, was ihm in Hinblick auf seine weitere Entwicklung passieren konnte. Das ergibt sich auch aus Äußerungen etlicher junger Gefangener im Rückblick. Die Trennung von der Familie, aber auch der Peergroup ist zwar ebenso schmerzhaft wie der Verlust der Freiheit, aber er bietet Chancen und wird von vielen im Endeffekt gut genutzt. Viele kommen hier das erste Mal im Leben zur Ruhe, lernen mit Grenzen und Regeln umzugehen. Trotzdem plädiere ich nicht dafür, junge Menschen schneller in Vollzugsanstalten einzuweisen. Da gibt es sicher andere Möglichkeiten beispielsweise der Jugendhilfe. Wenn wir das vorhandene Jugendstrafrecht ausschöpfen, haben wir alles, was wir brauchen.


Ellen Nieswiodek-Martin ist freie Journalistin und Autorin.