Regierungswechsel: Die neue Agenda 2010

Regierungswechsel: Die neue Agenda 2010
Die nächsten vier Jahre könnten für Deutschland tatsächlich zukunftsweisend werden. Wenn, ja wenn die neue Bundesregierung tatsächlich die Strukturprobleme angehen würde, die seit Jahrzehnten von keiner Koalition in Angriff genommen wurden.
28.09.2009
Von Arnd Brummer

Es handelt sich bei den Themen für die neue Agenda 2010 um beliebte Unterhaltungselemente landläufiger TV-Talkrunden, diverser Sonntagsreden von Protagonisten aller Parteien auf Gewerkschaftskongressen, bei Verbandstagen und Messe-Eröffnungen.

Nummer eins: Bildungsreform. Niemand in Europa kann verstehen, dass sich die Bundesrepublik das Nebeneinander von 16 Schul- und Hochschulsystemen leistet. Dabei gibt es länderübergreifend pädagogisch tatsächlich so gut wie keinen Wettbewerb. Zwei Lösungsrichtungen sind möglich: Entweder die totale Öffnung des Bildungssystems samt seiner Entstaatlichung (der Staat setzt nur noch bundesweit geltende Standards und Rahmenrichtlinien) und einer reformpädagogischen Freiheit für jede Schule. Oder es werden bundesweit einheitliche Regelungen von der Lehrerausbildung bis zu den Abschlussprüfungen beschlossen. In jedem Fall muss die Anzahl und die Qualität der Lehrerinnen und Lehrer (inklusive ihrer Entlohnung) deutlich erhöht werden. Das kostet Geld.

Nummer zwei: Die Sozialversicherung. Die Koppelung der Abgaben an die menschliche Arbeit muss gelöst werden. Es kann nicht sein, dass Betriebe, die Menschen beschäftigen, zusammen mit den Arbeitnehmern die überwiegenden Kosten für das Sozialsystem aufbringen, während z. B. Raffinerien, die fast ohne menschliche Arbeit auskommen, ungeschoren davon kommen. In einer Dienstleistungsgesellschaft, in der das Produzieren Maschinensache, Pflege und Sorge hingegen Menschenjob bleiben, kann diese Schieflage zu Gunsten der menschlichen Arbeit korrigiert werden. Zudem ist nicht nachzuvollziehen, dass die öffentliche Hand (also alle Steuerzahler) die Sozialkosten für Beamte aufbringen soll, diese aber nicht beteiligt werden und darüber hinaus noch die komfortablere Altersversorgung haben.

Nummer drei: Globalisierungsrisiken. Nationale und europäische Subventionen (z.B. für Landwirte und fossile Energieträger) sind Protektionismus, der außereuropäischen Volkswirtschaften die Zugänge zu unseren Märkten erschwert, das Entstehen von Kaufkraft hemmt und damit neue Märkte für unsere Exportwirtschaft nicht entstehen lässt.

Nummer vier: Steuersystem. Die Ideen des "Heidelberger Professors" Paul Kirchhof sind noch immer nicht falsch, auch wenn Angela Merkel ihn 2005 hat fallen lassen: Einfache, niedrigere Steuersätze auch für Gutverdiener und im Ausgleich die Beseitigung der Abschreibungsmöglichkeiten. Viele der Gut- und Bestverdiener stecken zwar auf dem Papier in den Zonen hoher Spitzensteuersätze, zahlen aber letztlich wenig oder keine Steuern, weil sie virtuos diverse Abschreibungsmöglichkeiten nutzen können. Zusätzlicher Schaden: Das komplizierte System schadet der Glaubwürdigkeit des Steuerstaates und frisst eine Menge produktiver Energie.

Die Chancen, dass in einer dieser Schlüsselbereiche tatsächlich tiefgreifend reformiert wird, sind trotz der relativen Einigkeit der mutmaßlichen Regierungsparteien gering. Wer auch immer hier aktiv würde, müsste mit einem öffentlichen Sturm rechnen, an dem gemessen der Widerstand gegen Gerhards Schröders alte Agenda 2010 ein laues Sommerlüftchen war.