TV-Tipp des Tages: "Tatort: Wegwerfmädchen" (ARD)

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TV-Tipp des Tages: "Tatort: Wegwerfmädchen" (ARD)
TV-Tipp des Tages: "Tatort: Wegwerfmädchen", 15. Juni, 20.15 Uhr im Ersten
Mit Hilfe des stadtbekannten Zuhälters Koschnik haben die Honoratioren von Hannover einen heiteren Abend gefeiert. Zum Dessert gab’s zwangsprostituierte Mädchen aus Weißrussland, die anschließend zum Schweigen gebracht werden sollten.

Wenn ein Fernsehhaushalt im Schnitt achtzig Programme empfangen kann, ist ein Markenname wie "Tatort" Gold wert. Um so lobenswerter ist es, dass sich die ARD unter dem Dach dieser Marke immer wieder Experimente traut; sei es thematisch oder ästhetisch bei Einzelfilmen, sei es mit einem Zweiteiler wie dem Zusammenspiel der Kommissare aus Köln und Leipzig im Frühjahr 2012 ("Kinderland"/Ihr Kinderlein kommet"). Mit Charlotte Lindholm durfte im Dezember des selben Jahres zum ersten Mal in der langen "Tatort"-Geschichte eine einzelne Ermittlerin an zwei Sonntagen hintereinander auf Verbrecherjagd gehen. Die Idee, auf der Stefan Dähnerts Drehbuch basiert, hatte Maria Furtwängler, und es war eine ausgezeichnete Entscheidung des NDR, der Handlung 180 Minuten zu widmen. Ähnlich wie bei der Kooperation von WDR und MDR beginnt Teil eins, "Wegwerfmädchen", mit dem Mord an einer jungen Frau. Selbst wenn Regisseurin Franziska Meletzky und ihre Kamerafrau Eeva Fleig die Grausamkeit der Ereignisse optisch entschärfen: Die Bilder verfehlen ihre Wirkung nicht. Wenn später der Gerichtsmediziner beschreibt, was der jungen Frau sonst noch alles widerfahren ist, wird nicht nur der hartgesottenen Kommissarin ganz anders.

Die Überlebende

Seinen Titel verdankt der erste Teil einem tatsächlichen Ereignis und der entsprechenden Schlagzeile: Wie das Filmopfer war eine Frau im Müll entsorgt worden. Aber in Dähnerts Drehbuch gibt es eine Überlebende, und dank deren Schilderungen kann sich Lindholm schließlich einen Tathergang zusammenreimen, der ungeheuerlich erscheint: Mit Hilfe des stadtbekannten Zuhälters Koschnik (Robert Gallinowski) haben die Honoratioren von Hannover einen heiteren Abend gefeiert. Zum Dessert gab’s zwangsprostituierte Mädchen aus Weißrussland, die anschließend zum Schweigen gebracht werden sollten. Als Dähnert seine erste Drehbuchfassung fertig hatte, wurde die Budapester Sexparty der  Versicherungsgruppe Ergo bekannt; nun tragen auch die Mädchen im Film verschiedenfarbige Armbänder. Und man muss sich nicht mal in der Finanzwelt auskennen, um zu ahnen, welcher prominente Finanzunternehmer aus Hannover Dähnert als Vorbild für den charismatischen Hajo Kaiser gedient haben mag. Bernhard Schir hat spürbar Spaß an der Figur des selbstgefälligen Emporkömmlings, der zunächst nur deshalb eine Rolle spielt, weil Jan Liebermann (Benjamin Sadler) wieder für eine heiße Story recherchiert und deshalb keine Zeit für seine Freundin Charlotte hat. Mit großem Geschick lässt Dähnert die beiden parallel erzählten Handlungsstränge beinahe unmerklich ineinander über gehen.

Als Zeugin der Anklage soll jene junge Frau fungieren, die ihre Entsorgung wie durch ein Wunder überlebt hat. Für Emilia Schüle war diese Rolle ein weiterer Schritt, um "Freche Mädchen" hinter sich zu lassen, zumal die junge Schauspielerin als Larissa aus Minsk eine ganz neue Qualität offenbaren darf: Ihre Eltern sind Russlanddeutsche, sie spricht fließend russisch. Davon abgesehen nutzt sie das Spektrum der Rolle weidlich aus und macht ihre Sache neben Maria Furtwängler ausgezeichnet. Trotzdem steht außer Frage, wer der Star der beiden Filme ist, zumal Lindholm gegen mächtige Gegner antritt; selbst der zuständige Staatsanwalt (André Hennicke) hat Dreck am Stecken.

Gerade die spannenden Szenen verdanken ihr hohes Maß an Intensität allerdings nicht nur der Hauptdarstellerin, sondern auch einem bestechenden Zusammenspiel von Bildgestaltung und Tonmischung (Ben Krüger). "Wegwerfmädchen" ist zwar in sich abgeschlossen und der Mörder am Ende gefasst, aber die Geschichte ist noch lange nicht zu Ende. Die Fortsetzung, "Das goldene Band", zeigt die ARD am nächsten Sonntag.