Kritik an Schweizer Votum zu Zuwanderung

dpa/Steffen Schmidt
Hunderte Menschen haben am Sonntagabend in der Schweiz - wie hier in Zürich - ihrer Enttäuschung über die Annahme der Initiative der SVP "Gegen Massenzuwanderung" mit spontanen Kundgebungen Luft verschafft.
Kritik an Schweizer Votum zu Zuwanderung
Nach der Zuwanderungsentscheidung herrscht in Europa und auch vielerorts in der Schweiz Sorge und Ungewissheit. Die stark exportorientierte Industrie fürchtet Nachteile im Handel mit der EU. Anti-europäische Parteien in der EU sind dagegen begeistert.

Nach dem hauchdünnen Ja der Stimmbürger pocht die rechtsnationale Schweizerische Volkspartei (SVP) auf eine zügige Umsetzung der Initiative gegen die "Masseneinwanderung". Es sei der Tag, an dem die Regierung von der Bevölkerung den "klaren Auftrag erhalten hat zur EU zu gehen und die Personenfreizügigkeit neu auszuhandeln", betonte der Vorsitzende der SVP, Toni Brunner am Sonntagabend in Bern.

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Die Schweizer hatten sich am Sonntag in einer Volksabstimmung überraschend dafür ausgesprochen, die Zuwanderung aus der EU zu begrenzen. Mit 50,3 Prozent fiel die Zustimmung für die Initiative denkbar knapp aus. Laut dem angenommenen Text muss die Schweiz nun mit der EU über die Einführung von Obergrenzen und Kontingenten für Zuwanderer aus Deutschland und anderen EU-Ländern verhandeln.

Der Gewerkschaftsbund führt das Ja zu der SVP-Initiative auf eine weit verbreitete Angst um Löhne und Arbeitsbedingungen zurück. Die Regierung habe das Unbehagen der Arbeitnehmer angesichts der vielen Einwanderer nicht ernstgenommen. In der Schweiz mit acht Millionen Einwohnern liegt der Ausländeranteil bei fast einem Viertel. In den vergangenen Jahren überstieg die Zahl der Einwanderer die der Auswanderer um jeweils rund 80.000. Die 300.000 Deutschen bilden nach den Italienern die zweitstärkste Ausländer-Gruppe im Land.

Aus Enttäuschung über die Niederlage gingen in den Großstädten Zürich, Bern und Luzern am Abend Hunderte Menschen auf die Straßen, um weiterhin für eine offene Schweiz zu werben. Die Regierung, die sich gegen die Initiative ausgesprochen hatte, betonte ihre Enttäuschung. Die Initiative sei unvereinbar mit dem EU-Freizügigkeitsabkommen.

Elmar Brok: "Wir können das nicht widerspruchslos hinnehmen"

Die Regierung in Bern muss nun binnen drei Jahren das Anliegen umsetzen. "Die Schweiz wird also in Zukunft die Bewilligungen für den Aufenthalt von Ausländerinnen und Ausländern durch Höchstzahlen und Kontingente begrenzen", sagte Justizministerin Simonetta Sommaruga. Der Entscheid habe "weitreichende Folgen für unsere Beziehungen zur EU". Die neue Verfassungsbestimmung lasse vieles ungeklärt, so etwa wie die Kontingente festgelegt werden sollen, wer sie festlegt oder wie hoch die Kontingente sein sollen. Offen sei auch, welche Branchen auf ausländische Arbeitskräfte verzichten müssten, wenn die Kontingente ausgeschöpft seien. Die Schweiz werde schon bald erste Gespräche mit der EU führen. Der Schweizer Bundespräsident Didier Burkhalter kündigte am Abend an, es gehe nun darum, eine auch aus Sicht der EU akzeptierbare Form zu finden.

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Die Europäische Union hat angesichts der engen Wirtschaftsbeziehungen zur Schweiz das Votum der Eidgenossen für eine Abschottung ihres Landes kritisiert. Eine Einschränkung der Zuwanderung für Ausländer verletze das Prinzip des freien Personenverkehrs zwischen der Europäischen Union und dem Alpenland, teilte die EU-Kommission in Brüssel mit. Der Präsident des EU-Parlaments, Martin Schulz, ermahnte die Schweizer, sie könnten nicht nur die Vorteile des großen europäischen Binnenmarktes für sich in Anspruch nehmen. 

Als assoziierter EU-Partner würde die Exportnation Schweiz im Fall von Zuwanderer-Kontingenten gegen das Recht der Personenfreizügigkeit verstoßen. Offene Grenzen für Arbeitnehmer gehörten zu den Prinzipien des Binnenmarktes, betonte der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im EU-Parlament, Elmar Brok. "Wir können das nicht widerspruchslos hinnehmen", sagte der CDU-Politiker dem "Kölner Stadt-Anzeiger" (Montag). Brok befürchtet, dass das Schweizer Votum chauvinistischen Kräften in ganz Europa Auftrieb gibt. "Die Gefahr ist groß, dass das im Europawahlkampf eine Rolle spielt", sagte er. Bei anti-europäischen Parteien in der EU sorgte die Entscheidung der Schweizer Bevölkerung für Begeisterung.

Adolf Muschg: "Tiefer Mangel an kosmopolitischer Substanz"

Der Schriftsteller Adolf Muschg rechnet damit, dass die Schweiz für die Volksabstimmung über die Zuwanderung noch einen hohen politischen Preis bezahlen wird. Im Deutschlandradio forderte der Schweizer Autor am Montag die Europäische Union auf, auf die Abstimmung "nicht windelweich" zu reagieren. Die Schweiz müsse merken, was sie angerichtet habe. Sein Land könne im Übrigen nicht ohne Zuwanderung existieren, vor allem nicht im Gastgewerbe, in der Pflege und in der Landwirtschaft.

Muschg deutete den Sieg der Volksinitiative gegen "Masseneinwanderung" als "Trotzreaktion gegen die Globalisierung" und sprach von einem "tiefen Mangel an kosmopolitischer Substanz". Die Versuchung, die Schuld an Problemen Sündenböcken zuzuschieben, sei aber "keine schweizerische Spezialität", sagte der Autor.

Der ehemalige Präsident der Akademie der Künste Berlin ergänzte, er empfinde auch "ein Stück Scham". Deshalb wolle er sich bei den Menschen entschuldigen, die als Ausländer in der Schweiz lebten: "Es soll sich kein Deutscher unwohl fühlen in der Schweiz nach dieser Abstimmung", betonte Muschg. Nichts werde so heiß gegessen, wie es gekocht werde.

Nachteile im Handel mit der EU

Der Erfolg der Initiative gegen "Masseneinwanderung" löste in der Schweizer Wirtschaft große Sorgen aus. "Wir werden jetzt in eine Phase der Unsicherheit einbiegen", sagte der Präsident des Schweizer Arbeitgeberverbands, Valentin Vogt, im Schweizer Fernsehen. Unsicherheit sei für die Wirtschaft schlimmer als schlechte Nachrichten. Die stark exportorientierte Maschinen-, Elektro- und Metall-Industrie fürchtet nach Angaben vom Sonntagabend beträchtliche Nachteile im Handel mit der EU. Die Politik müsse alles daran setzen, das die Verträge mit der EU intakt blieben.

In Deutschland fordert die Linkspartei drastische Konsequenz aus dem Schweizer Votum für härtere Zuwanderungsregeln. Parteichef Bernd Riexinger forderte die Einführung von Kapitalverkehrskontrollen. "Wenn die Schweiz ihre Grenze für Menschen schließt, dann ist es nur gerecht, wenn auch das Geld draußenbleibt", sagte Riexinger dem "Handelsblatt" (Montag). "Die Schweiz kann sich nicht ernsthaft auf den Standpunkt stellen, dass sie sich gegen Zuwanderer abschotten kann, und gleichzeitig das Steuerfluchtgeld aus ganz Europa mit offenen Armen empfängt", argumentierte Riexinger.