Jüdische Kantorin singt für Opfer der Schoah

Foto: epd-bild/Stephan Pramme
Kantorin Avitall Gerstetter vor einem Gebäude ihrer Gemeinde in Berlin
Jüdische Kantorin singt für Opfer der Schoah
Mit "We will call out your name" hat die jüdische Kantorin Avitall Gerstetter aus Berlin ein einzigartiges Erinnerungsprojekt geschaffen. Zum Holocaust-Gedenktag an diesem Montag wird es im Berliner Dom aufgeführt.
27.01.2014
epd
Gunnar Lammert-Türk

"Erbarmungsvoller Gott gewähre vollkommene Ruhe allen Seelen!" sang Avitall Gerstetter, jüdische Kantorin aus Berlin, auf hebräisch vergangene Woche vor dem Krematorium in Auschwitz. "Allen Seelen der sechs Millionen Juden." Die 40-Jährige sang für diejenigen, die kein Grab fanden, die, wie es im Gebetsgesang weiter heißt, "ermordet, hingeschlachtet oder verbrannt und vernichtet wurden".

Neben ihr stand eine alte Frau, die ernst und gefasst auf die erste jüdische Kantorin Deutschlands blickte. Avitalls Großtante Jolly war eigens mit ihrem Sohn Moshe aus Israel angereist, um den Gesang ihrer Großnichte hier zu erleben. Im Anschluss sprach Moshe das Kaddisch, das jüdische Totengebet.

Die Bilder bleiben

Großtante Jolly, heute 82 Jahre alt, wurde 1944 mit ihrer Großmutter, den Eltern und zwei Schwestern aus einem kleinen Ort in Ungarn nach Auschwitz deportiert. Üblicherweise spricht sie Ungarisch und Hebräisch, aber an diesem Tag spricht sie Deutsch, das sie von den Eltern kennt, die noch im Vielvölkerstatt Österreich-Ungarn aufgewachsen sind. Nur, wenn die Worte fehlen, weicht sie ins Hebräische aus. Dann übersetzt Avitalls Mutter, die mit an den Ort gekommen ist, der wie kaum ein anderer für den Vernichtungswillen der Nationalsozialisten steht.

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"Ich sehe alles", sagt Jolly, als sie über das Gelände von Auschwitz läuft: "Alles!" Und sie erzählt: von der Ankunft an der Rampe; davon, wie sich die Schwestern nicht mehr erkennen, nachdem sie kahlgeschoren worden sind; vom stundenlangen Stehen auf dem Appellplatz in Fünferreihen, damit die Häftlinge leichter gezählt werden können; wie die ältere Schwester dabei in Ohnmacht fällt; wie jemand sie hochreißt, damit sie nicht aussortiert und dem Tod ausgeliefert wird; davon, wie 14 Mädchen und Frauen sich eine Holzfläche von zweieinhalb mal zweieinhalb Metern als Schlafstatt teilen müssen; wie der "Todesengel" Joseph Mengele in eleganten Reitstiefeln durch die Baracke geht und auch die Kranken sich nicht krankmeldeten, um zu überleben; vom Hunger und von der Arbeit in den Lagerfabriken.

Jolly und ihre große Schwester haben Auschwitz überlebt. Nach der Befreiung ging sie zunächst nach Ungarn, dann 1947 nach Palästina. Vater, Mutter und Großmutter wurden in dem Vernichtungslager ermordet. Ihre kleine Schwester, Rozsika, war bereits am Tag der Ankunft ins Gas geschickt worden. Sie war acht Jahre alt. 

Eine Erinnerungsreise

Avitall Gerstetter war ebenfalls acht, als Jolly ihr bei einem Israel-Besuch davon erzählte. Die Geschichte ließ sie nicht mehr los. Und so hat sie diese aufgeschrieben und in einem Jugendbuch und Comicband "Hannah und Rozsika" mit dem Schicksal von Hannah verknüpft. Diese war die Großtante der israelischen Illustratorin des Buches, Inbal Leitner, und wurde mit 16 Jahren in Auschwitz ermordet.

Avitall Gerstetter wurde 2000 mit 28 Jahren erste Kantorin einer jüdischen Gemeinde in Deutschland. Sie übt ihr Amt in der Synagoge in der Oranienburger Strasse in Berlin aus.

Für das Erinnerungsprojekt "We will call out your name" (Wir werden eure Namen rufen) hat Gerstetter die Geschichte in eine Bühnenfassung gebracht und Lieder dazu komponiert. Es ist eine Erinnerungsreise, die in Auschwitz begann und nach einer Zwischenstation im Haus der Wannseekonferenz am Montag, dem Schoah-Gedenktag, im Berliner Dom ihren vorläufigen Abschluss findet mit Gesang von Avitall Gerstetter, einer Begleitband, zwei Tänzern und dem Domchor unter Tobias Brommann.

Avitall kehrt so den Leidensweg der Juden im Nationalsozialismus um. Von Berlin ging der Beschluss zu ihrer Vernichtung aus und führte nach Auschwitz. Nun kehren die Toten von dort zurück, vom Ort der Vernichtung nach Berlin und mit der Erinnerung zurück ins Leben der Gegenwart.

Mit ihnen kehrt auch Rozsika zurück. Ihre Schwester Jolly hat für sie ein Seelenlicht entzündet vor dem Krematorium in Auschwitz. Mit ihrem Sohn Moshe wird sie es am Montag in den Dom tragen. Auch ein Ausdruck für die Hoffnung, dass nach all dem Leid "der Herr des Erbarmens", wie es Avitall in Auschwitz gesungen hat, die Ermordeten "für ewig im Schutz seiner Fittiche bergen und ihre Seelen in den Bund des Lebens aufnehmen" wird.

Das Erinnerungskonzert "Wir werden Eure Namen rufen" beginnt am Montag, 27. Januar, um 20 Uhr im Berliner Dom.