"Wenn ich mir selber näher komme, komme ich Gott näher"

Eine Frau sitzt allein in einer Kirche
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"Es gibt ja viele Menschen, die nicht in den Gottesdienst, aber in die Kirche gehen und darin einzeln beten. Sie wollen erstmal alleine sein und nicht gestört werden."
"Wenn ich mir selber näher komme, komme ich Gott näher"
Eine Einordnung der Jahreslosung aus Psalm 73,28
"Gott nahe zu sein ist mein Glück" - diese Losung soll uns durch das Jahr 2014 begleiten. Der Marburger Praktische Theologe Gerhard Marcel Martin stellt klar, dass der Psalmbeter keinesfalls im Glück lebt - vielmehr in einer Krise. Das "Nahen Gottes" werde als Perspektivwechsel erlebt: Als Irritation oder Ruhe, Schrecken oder Liebe.

Kommt Gott dem Menschen nahe oder kommt der Mensch zu Gott?

Gerhard Marcel Martin: Das ist so eine theologische Frage, mit der einem eine Pistole auf die Brust gesetzt wird: So oder so? Es ist garantiert beides, das hat was miteinander zu tun. ###mehr-personen### Aber was ich viel interessanter an der Jahreslosung finde, ist, dass das Thema der Nähe Gottes überhaupt thematisiert wird. Wenn man den ganzen Psalm liest und nicht nur den Schluss, dann merkt man, dass der Psalm eigentlich nicht von Gottes Nähe, sondern von seiner Unerreichbarkeit, von der Unselbstverständlichkeit seiner Nähe spricht. Dieser Schlussvers, der so gut auf die Littfasssäulen passt, ist hart errungen, und darin steckt ein Hilferuf. Es ist ein Satz im Widerspruch zu allem, was dieser Beter persönlich erlebt. Das Thema ist also nicht die Nähe Gottes (oder, wie einige Kollegen übersetzen: das Nahen Gottes), sondern das Nahen im Gegensatz zu seiner Ferne, zu seiner Abwesenheit. Das Glück ist erstmal auf der Seite der Ignoranten, der Übeltäter, auf der Seite der Macht, des Reichtums, der Gewalt und eines gewissen Hochmutes. Der Beter – sagen manche Exegeten – ist sogar eher krank und arm. Er resigniert und lebt überhaupt nicht im Glück.

Sie haben gesagt, diese Aussage über das "Nahen Gottes" ist hart errungen. Wie stellen Sie sich das denn vor: Ist es eine trotzige Behauptung – "Gott ist mir aber trotzdem nah!" – oder ist es tatsächlich eine Erfahrung oder ein Gefühl der Gottesnähe?

Martin: Wie in vielen Psalmen gibt es auch hier einen Drehpunkt, über den sich Ausleger und Religionshistoriker heftig streiten. Der ist in Vers 17: "Bis ich eintrat in Gottes Heiligtümer." Manche denken, das ist eine innere Erfahrung: Ich spüre Gottes Wirklichkeit in mir selber. Gott ist auf eine wenig sichtbare Weise anwesend, und aufs Ganze gesehen ist meine Perspektive glücklicher als die Perspektive derer, die zurzeit so problemlos und besser leben als ich.

###mehr-info### Die andere Möglichkeit hat nicht so viele auf ihrer Seite: Der Beter geht ins Heiligtum, also in den Tempel und erhält dort so etwas wie einen priesterlichen Zuspruch oder ein Kult-Orakel. Oder er nimmt an einem Ritual in der Gemeinde der Gläubigen teil und spürt dann, dass es eine jüdische Gemeinschaft gibt, deren Glaube nicht nur den Einzelnen, sondern auch das Kollektiv trägt. Der Psalm ist – wie der ganze Psalter – ein Dokument der Krise, und es gibt Gründe, ihn in Verbindung mit Hiob und seiner Glaubensproblematik zu lesen.

Sie haben von der Auslegungsmöglichkeit gesprochen, dass der Psalmbeter in den Tempel ging. Hat das Gehen in eine Kirche etwas damit zu tun, dass man sich Gott nahe fühlt?

Martin: Daran zweifle ich nicht. Kirchenräume sind nicht nur kunstgeschichtlich relevant, sondern auch pädagogisch: Man lernt in religiösen Räumen. Außerdem spielt die Fremdheit eine Rolle, das Große, das nicht "Küchenmäßige", Alltägliche dieses Raumes, und zwar – etwas beschwörend formuliert – in einer Präsenz, in einer Gegenwart. Es gibt ja viele Menschen, die nicht in den Gottesdienst, aber in die Kirche gehen und darin einzeln beten. Sie wollen erstmal alleine sein und nicht gestört werden.

Ich verlasse für einen Moment alle vor- und nachadventlichen Trubelsituationen und Überbeschäftigungen und komme tatsächlich in eine Ruhe, in eine Unterbrechung, in eine Gegenperspektive. Das erste – das hat schon der Kirchenvater Schleiermacher gesagt – das erste, was Gottesdienst ist, ist Unterbrechung. Das ist eine sehr profane Kategorie. Wenn ich auch überhaupt keine ekstatische Erfahrung oder kein religiöses Erlebnis oder keine Himmelsreise erlebe, kann ich doch irgendwie durchatmen, ich habe einen anderen Ort gegenüber allen Orten der Hektik.

"Eine Energie, eine Liebe im Raum, die ich sonst nicht spüre"

Angenommen, jemand erlebt in einer solche Situation Gottes Nähe: Was ist das überhaupt? Ist das ein Gefühl, ist das Einbildung oder ein psychologischer Zustand?

Martin: Sie verführen mich dazu, etwas schnell zu sagen, was man nicht schnell sagen kann. Religionspsychologisch, aber auch frömmigkeitsgeschichtlich gibt es unheimlich viele verschiedene Spielarten dessen, was Menschen als Gottesnähe etikettieren oder so nennen. Wir haben schon über solche Phänomene wie Ruhe, Gegenwart, Stille, ein Stück Erhabenheit in großen mittelalterlichen Kirchenräumen, Selbstzentrierung gesprochen. Das kann bis zu einer vorübergehenden Irritation kommen: Wer bin ich eigentlich, wenn ich in allen sozialen Bezügen für ein paar Minuten nicht bin? Es geht also um Perspektivenerweiterung. Das ist dann der Inhalt von ganz vielen Gebeten, kirchlichen Liedern. Aber die Erfahrung und das Darüber-Reden sind so sehr zweierlei, dass ich eigentlich keine präzise Antwort geben kann.

###mehr-links### Am Anfang des vorigen Jahrhunderts, als die Religionspsychologie anfing, gab es dieses berühmte Buch "The Varieties of Religious Experiences" von William James, darin geht es um dieses Spektrum von Entrückung, von Zentrierung, von der plötzlichen Entdeckung, dass eine Tür aufgeht dorthin, wo ich vorher nicht war, dass mein Atem plötzlich ruhig geht. Das ist auch was Somatisches. Gotteserfahrungen haben ganz verschiedene Erscheinungsformen und sind in unserer Tradition mit den Überlieferungen, den Ritualen, den Liturgien und protestantisch besonders mit den Texten der Bibel verbunden. Im Lesen, im Auslegen, im Meditieren, im Spielen habe ich plötzlich – ich nehme das Stichwort nochmal auf – eine Gegenperspektive. Diese Texte sind indirekte Selbstbegegnungen. Wenn ich mir selber näher komme, komme ich auch Gott näher. Und ob das dann mein Glück ist oder erstmal mein Schrecken oder einfach meine Orientierung und meine Klarheit, das ist dann nochmal eine andere Frage.

Können Sie zum Schluss die Perspektive des Theologen für einen Moment verlassen? Ich würde Sie gerne fragen, ob Sie auch persönlich schon einmal eine Erfahrung der Gottesnähe gemacht haben - und wie das war.

Martin: Ich halte viel vom Pietismus, aber die Frage kommt mir zu eng pietistisch vor. Nochmal die Pistole auf die Brust: Hast du auch solche Erfahrungen gemacht? Ich bin Protestant und ich singe im Gottesdienst oft das Lied des protestantischen mystischen Theologen Gerhard Tersteegen, "Gott ist gegenwärtig". Das steht im Gesangbuch. Darin zum Beispiel erlebe ich sowas, nach dem Sie fragen - in der gottesdienstlichen Konzentration und Ruhe. Aber diese Form der Anwesenheit Gottes, der Gegenwart Gottes und meiner Anwesenheit, ist schwer oder nur poetisch zu fassen. Wir haben Prediger wie den Meister Eckhart, der ist großartig, aber er kommt immer ins Stottern und schließlich ins Schweigen.

###mehr-artikel### Zur religiösen Erfahrung gehört gerade auch, dass ich mich zurücknehme und zurücktrete und nicht nur den anderen, Gott, sondern auch den, mit dem ich diese Situation teile und der mir gegenüber ist, erlebe. Solche Formen der Präsenzerfahrung, dass da wirklich eine Kraft, eine Energie, eine Liebe im Raum ist, die ich sonst nicht spüre, das passiert im Geben und Nehmen, in Bibliodramaprozessen, in der Liturgie, in seelsorgerlichen Gesprächen, in Freundesgesprächen. Das ist etwas Personales und nicht etwas Privates eines einzelnen Individuums. Wenn ein Einzelner – so, wie in dem Psalm – fragt und beschreibt und sich durchkämpft – da ist etwas überhaupt nicht mehr in Ordnung. Der Beter befindet sich in einer außergewöhnlichen Krise, in einer Glaubenskrise.