Lampedusa in St. Pauli

Foto: dpa Picture-Alliance/Lapresse
Aus Libyen geflüchtete Afrikaner am Hafen Taranto von Lampedusa. Am 15. April 2013 schloss die italienische Regierung die Winterquartiere und schickte die Flüchtlinge außer Landes.
Lampedusa in St. Pauli
Der Stadtteil St. Pauli ist grundsätzlich ein Ausnahmezustand, sagt Pastor Sieghard Wilm. Nie läuft irgendetwas rund: Prostitution, Kriminalität und Gewalt sind die Kehrseiten des Viertels, in dem das Vergnügen zuhause ist. Seit zwölf Jahren arbeitet er hier. Auch seine Kirche, passend zu St. Pauli, ist seit Anfang Juni 2013 im Ausnahmezustand: 80 afrikanische Flüchtlinge, ohne Perspektive auf Aufnahme in Deutschland, haben dort ihre Schlafstatt.
08.07.2013
evangelisch.de

Die Stühle sind zur Seite gerückt, Matratzen und Decken liegen auf dem Boden. Vor der Orgel hängt Wäsche, auf der Empore lagert tagsüber das Bettzeug von 80 Afrikanern. Die evangelische St. Pauli-Gemeinde hat die Flüchtlinge in ihrer Kirche aufgenommen, nachdem sie innerhalb der Stadt einen Platzverweis nach dem anderen bekommen hatten. "Das habe ich nicht über's Herz gebracht, sie draußen vor der Tür zu lassen", sagt Pastor Sieghard Wilm.

Cirka 300 afrikanische Flüchtlinge sollen sich in Hamburg aufhalten. Die Flüchtlinge kommen vorwiegend aus Westafrika, aus Ghana, Mali oder der Elfenbeinküste. Die meisten von ihnen sollen Wanderarbeiter in Libyen gewesen sein, die infolge des Bürgerkrieges nach Europa flüchteten - der Landweg in ihre Herkunftsländer war versperrt. Auf der italienischen Insel Lampedusa kamen sie in Flüchtlingscamps unter. Als die italienische Regierung die Flüchtlingslager schloss, standen 5.500 afrikanische Flüchtlinge auf der Straße. Die italienischen Behörden verteilten pro Flüchtling 500 Euro und ein Touristenvisum für den Schengen-Raum. So gelangte ein Teil von ihnen nach Hamburg. Und wurde obdachlos.

"Die Menschen in St. Pauli werden laut protestieren"

"In Hamburg erlebe ich eine Kälte gegenüber Fremden, die ich aus Ghana nicht kenne", sagt Sieghard Wilm. "Die Gastfreundschaft in afrikanischen Ländern ist hingegen überwältigend." Für ihn, der in seiner Studienzeit ein Jahr in Ghana verbrachte, ist diese Einsicht beschämend. "Die Landesregierung von Hamburg will keine Verantwortung für diese Menschen übernehmen, die hier gestrandet sind und unsere Hilfe brauchen."

Aname Kofi Mark (l), Sprecher der Gruppe "Lampedusa in Hamburg", spricht im Informationszelt der Gruppe nahe des Hauptbahnhofs in Hamburg. In dem Zelt verteilen die Flüchtlinge Nahrungsmittel und Getränke, die sie von Bürgern gespendet bekommen haben.

Tatsächlich verweigert die Stadt bisher jede Form von humanitärer Hilfe. Die Flüchtlinge bekommen weder Schlafplätze noch Essen oder eine medizinische Versorgung. Diese Aufgabe haben stattdessen die Kirchen und eine Moschee übernommen. Auch wenn Senatspresseprecher Jörg Schmoll sagt: "Wir haben eine Unterkunft für die Flüchtlinge angeboten und die Notquartiere der Stadt stehen den Flüchtlingen zur Verfügung", entgegnet Pastor Sieghard Wilm: "Die Hilfe der Stadt hatte eine erkennungsdienstliche Erfassung mit dem Ziel der Rückführung der Flüchtlinge nach Italien zur Voraussetzung. Dort wäre keiner hingegangen."

In Absprache mit der Verwaltung der Nordkirche hat die St.-Pauli-Gemeinde die Funktion übernommen, die Öffentlichkeit zu informieren und einen Einblick in das Leben der Flüchtlinge zu gewähren. "Alle anderen Orte halten wir geheim, damit es keine Übergriffe rechtsradikaler Art gibt", sagt Sieghard Wilm. Gegen die Kirchengemeinde St. Pauli hat es bereits Drohungen gegeben.

Die Nordkirche sowie die Diakonie hielten unterdessen den Kontakt zur Landesregierung aufrecht, sagt Sieghard Wilm. Doch egal was am Ende der Gespräche heraus komme, solange Menschen seine Hilfe bräuchten, werde er das Notlager in seiner Kirche weiterführen und humanitäre Hilfe leisten. Dass die Polizei irgendwann die Kirche umstelle, um die Flüchtlinge nach Italien zurückzubefördern, hält er für unwahrscheinlich. "Und wenn, dann werden die Menschen in St. Pauli laut dagegen protestieren", ist er sich sicher.

Der italienische Botschafter: zu Gesprächen einbestellt

Die Menschen in St. Pauli stünden zusammen. Dies sei eine sehr positive Erfahrung in der ganzen traurigen Geschichte. Viele Spenden für die Flüchtlinge gehen ein. Sowohl Sachspenden wie Nahrung, Kleidung, Medizin und ein Duschcontainer. Als auch Zeitspenden wie Deutschstunden und Kulturprogramm für die Flüchtlinge. "Gerade haben wir 40 Karten für ein Fußballspiel geschenkt bekommen", erzählt Sieghard Wilm.

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Das Touristenvisum für den Schengen-Raum gilt üblicherweise drei Monate. Der Hamburger Staatsrat Wolfgang Schmidt, Bevollmächtigter der Landesregierung Hamburg bei Bund, Europäischer Union und in Auswärtigen Angelegenheiten ist deshalb der Meinung, dass ab dem 15. Juni 2013 alle Flüchtlinge illegal seien. Doch das sei falsch, sagt Sieghard Wilm: die Papiere der Flüchtlinge sind in verschiedenen Regionen Italiens ausgestellt und hätten unterschiedliche Laufzeiten. "Und logistisch ist es ohnehin nicht zu bewältigen, 300 Menschen auf einmal zurückzuführen."

Nachdem der italienische Botschafter zu Gesprächen einbestellt wurde, hat sich die italienische Regierung bereit erklärt, die Flüchtlinge zurückzunehmen. Nach dem Dublin-II-Abkommen hat die italienische Regierung allerdings auch keine andere Möglichkeit: nur dort, wo die Flüchtlinge zuerst europäischen Boden betreten haben, können sie einen Asylantrag stellen.

"Die Politik sollte sich mehr von Barmherzigkeit leiten lassen"

Darauf ruhen sich die Hamburger Landesregierung und auch die deutsche Bundesregierung aus. Egal, ob Italien mit dem Ansturm der Boote und Menschen überfordert ist. "Wir müssen der harten Realität der deutschen Asylgesetzgebung und der europäischen Regelungen entgegensehen", sagt Pastor Sieghard Wilm. Seine Rolle sei klar definiert: "Mein Auftrag ist humanitäre Nothilfe für die Gestrandeten zu leisten." Ein Auftrag, der seinen Alltag und den der 40 Ehrenmatlichen, die rund um die Uhr Wach- und Essendienste übernehmen, zum Ausnahmezustand macht.

Seit über einem Monat leben die Flüchtlinge nun in der Gemeinde. Sie haben einen Sprecher gewählt und jeder sei in Putzdienste eingeteilt. Der Kirchhof sei so sauber wie nie zuvor, sagt Sieghard Wilm. Tagsüber halten sich die Flüchtlinge oft im Hamburger Hauptbahnhof auf, wo sie ein Zelt aufgebaut haben und mit den Menschen ins Gespräch über ihre Situation kommen wollen. Die Gruppe nennt sich "Lampedusa in Hamburg" und wird unterstützt von Menschenrechtlern, die die Lebensbedingungen von Flüchtlingen in Italien kritisieren. Die meisten der Flüchtlinge wünschen sich eine Arbeit in Deutschland, um ihren und den Lebensunterhalt ihrer Familien Zuhause finanzieren zu können.

"Recht und Ordnung müssen sein", sagt Sieghard Wilm. "Doch manchmal wünsche ich mir, dass unsere Politik sich mehr von Barmherzigkeit leiten ließe." Die Aufnahme der Flüchtlinge habe die Barmherzigkeit in den Stadtteil gebracht. Über die Kirchengemeinde hinaus engagierten sich viele Menschen für die Flüchtlinge und seien beeindruckt von der Verantwortung, die die Kirche übernehme. "Endlich wird hier aufrechter Gang gezeigt, dass Kirche ein Rückgrat hat", hätten viele Menschen zu Pastor Wilm gesagt. Und: die Kircheneintritte hätten zugenommen, genauso wie die Taufen.