Zwischen Leben und Tod

Foto: imago/Jochen Tack
Wenn die Zeit stehen bleibt: Wie geht es den Angehörigen, wenn ein Familienmitglied ins Koma fällt?
Zwischen Leben und Tod
Wie soll man sich verhalten, wenn der eigene Bruder ins Koma fällt ohne Chance auf Genesung? Welche Entscheidungen sind zu treffen? Mit der Gehirnblutung ihres Bruders änderte sich das Leben einer Frankfurter Managerin von heute auf morgen.
22.11.2012
Corinna Willführ

Viele Jahre hat Katharina Weidner* sich nicht eingestanden, wie sehr ein Tag im November 2005 ihr Leben veränderte. Der Tag, an dem ihr Bruder ins Koma fiel. Es war ein Sonntag, an dem es sich die Managerin aus Frankfurt zu Hause gemütlich machen wollte. Der Wetterbericht hatte Dauerregen vorausgesagt. Als das Telefon klingelte, hoffte sie dennoch auf einen Anruf von Freunden, die Einladung auf einen Kaffee am Nachmittag. In der Leitung war die Lebensgefährtin ihres Bruders: "Der Karl, der Karl", stammelte sie, "ist einfach umgefallen." Nach einem Wurf auf die Neune. Mitten in einer Turniervorbereitung. Der Karl war Sportkegler.

Rettungssanitäter und Notarzt waren in wenigen Minuten vor Ort. Minuten, die ihm das Leben retteten. Das Leben von Karl sollte noch 25 Monate dauern. 25 Monate, in denen er künstlich ernährt werden musste, einen künstlichen Darmausgang hatte, nicht ansprechbar war und sich auch nicht artikulieren konnte. 25 Monate, in denen sich Katharina Weidner "einfach nur hilflos fühlte."

Nie wieder sprechen, essen oder laufen

Als die damals 49-Jährige ihren Bruder nach seinem Sportunfall auf der Intensivstation der Frankfurter Universitätsklinik am gleichen Tag zum ersten Mal sah, blickte sie in ein Gesicht, das sie kannte und das ihr doch so fremd war. Vieles aber sei in ihrer Erinnerung völlig verschwommen: "Das Bett, die Monitore, die Kanülen, der Galgen mit den Infusionen." Ein junger Arzt bat sie schließlich in ein Nachbarzimmer und gab ihr unmissverständlich zu verstehen, "dass die Gehirnblutung meines Bruders so ausgeprägt sei, dass es keine Aussicht gäbe, dass er je wieder sprechen, essen oder laufen würde können." Doch Karl, 56 Jahre alt, atmete. Und sein Herz schlug.

###mehr-artikel###"Alles ist noch heute wie im Nebel. Wenige Tage später fragte mich ein Bevollmächtigter des Amtsgerichts, ob ich die Vormundschaft für meinen Bruder übernehmen könnte. Ich sagte ja, nicht wissend, was dadurch auf mich zukommen sollte." Denn wie Katharina Weidner im Nachhinein erfuhr, hatte sich ihr seit vielen Jahren selbstständiger Bruder für ein neues berufliches Vorhaben hoch verschuldet. Inkassobüros meldeten sich wegen seit langem ausstehender Zahlungen. "Bei der Bank sagten sie mir, dass seine Geschäftsidee gut war". Doch nur solange er fit und funktionsfähig war. Das war der Kaufmann von einem auf den anderen Tag nicht mehr. 

Aus der Uniklinik kam Karl in eine Reha-Einrichtung im Main-Kinzig-Kreis. Während die Managerin ihn in der Uniklinik täglich - "in der Mittagspause, die ich vorher nie gemacht hatte" -  besucht hatte, konnte sie ihn danach nur noch am Wochenende sehen. "Wie er da lag, in einem Bett, ohne jegliche persönliche Atmosphäre um ihn herum, das hat nur weh getan", sagt die heute 55-Jährige.

Papierkrieg mit Behörden

Die Kostenübernahme für Karls Behandlung war nicht gesichert. Dutzende Male telefonierte sie mit der alten und der neuen Klinikleitung, schrieb Briefe an die Krankenkasse, das Sozial-, das Versorgungsamt, die Rentenversicherung, die Banken. Für die Managerin war es ein Lichtblick, als ihr Bruder aus der Reha-Klinik entlassen wurde. Trotz der Begründung: "Durch die Behandlung mit bewegungstherapeutischen Maßnahmen kann keine Verbesserung des Gesundheitszustandes mehr erzielt werden."

Karl kam in eine auf Koma-Patienten spezialisierte Klinik in Bad Wildungen. "Bringen Sie seine Lieblingssachen mit: Music-CDs, Schlafanzüge, Fotos. Und sagen Sie allen seinen Verwandten und Freunden, dass sie jederzeit vorbeikommen oder anrufen - und wenn nicht Ansichtskarten schicken können.", sagten die Pflegekräfte am Anfang. Ab und an kamen Karten von Freunden, die die Schwester wie ein Mobile über sein Bett hing. "In der ersten Woche dort kamen auch Kegelfreunde. Dann nicht mehr." Aus dem Kassettenrekorder tönten ein ums andere Mal die Schlager und Volkslieder, die Karl mit seiner Lebensgefährtin gehört hatte.

Was hört er, sieht er, fühlt er?

Ob ihr Bruder die Musik hörte, die Karten sah oder ihre Berührungen wahrnahm? Sie wusste es nicht. Die Spanne, in der sie es schaffte, die Fahrt von Frankfurt nach Bad Wildungen anzutreten, wurde immer länger. Die Zeit am Bett von Karl immer kürzer. "Er schien mir immer weiter weg zu sein. Es war aber wohl so, dass ich immer weiter weg von ihm war. Irgendwann bin ich dann aus dem Zimmer gegangen und wusste, dass ich nicht wieder kommen würde. Ich habe nur Tschüss gesagt."

Katharina Weidner gab die Vormundschaft für ihren im Koma liegenden Bruder nach fast zwei Jahren ab. Seine Lebensgefährtin bestand darauf, ihn in ein Heim zu verlegen, das näher an ihrer neuen Wohnung war. Dort starb Karl am Neujahrsmorgen 2008, an Herzversagen, allein. "Ich bin nicht zu seiner Beerdigung gegangen", sagt die 55-Jährige, "weil ich dort nicht auf Menschen treffen wollte, die ich über die zwei Jahre der völligen Hilflosigkeit meines Bruders nicht ein einziges Mal oder auch nur ein-, zweimal gesehen habe."

Abschalten - ja oder nein?

Die Verantwortung als Managerin für ihr Team und für die Betreuung eines Koma-Patienten: Katharina Weidner schaffte beides nicht. Sie gab ihre Anstellung auf.  Heute ist sie selbstständig. Im nächsten Jahr wird sie 56. "Das ist das Alter, in dem mein Bruder mit seinem neuen Projekt noch einmal durchstarten und anderen  beweisen wollte, was er kann", sagt sie. "Ich denke, dass es seine Nöte und Sorgen waren, existenzielle Gedanken um seine Zukunft. Sie müssen zu einem immensen Druck in seinem Kopf geführt haben."

Seit dem Sonntag im November 2005 verfolgt Katharina Weidner die Diskussion um Patientenverfügung, Organspende und Sterbehilfe intensiv. "Ich weiß, dass mein Bruder niemals eine Verlängerung seines Lebens durch Apparate gewollt hätte. Aber ich wünsche niemandem, dass er für einen Angehörigen die Frage "Abschalten Ja oder Nein" entscheiden muss. "  

*Name von der Redaktion geändert