Hamburg (epd). Eine Szene wie in einem typischen Computerspiel: ein düsteres Zimmer, auf dem Tisch liegen Briefe, vor allem Zahlungsaufforderungen und Rechnungen. Dann plötzlich bedrohliches Klopfen. Die Zwangsräumung steht an. Ein Szenario, das Schülerinnen und Schüler der 12. Klasse des Gymnasiums Othmarschen aus Hamburg per Virtual Reality erleben. Eine Erfahrung, die emotional berührt.
„Also da lagen irgendwie Dokumente und ich hatte das Portemonnaie da, aber ich hatte sonst nichts mehr“, berichtet Lilly Moka von ihrem Virtual-Reality-Erlebnis. Die Schülerin spricht leise, ist sichtlich angefasst. „Also es war schon fast ein Angstgefühl, was man da bekommen hat. Wie weise ich denn jetzt nach, was und wer ich bin?“
So wie Lilly geht es vielen ihrer Jahrgangskollegen. Ihr Gymnasium liegt in einem wohlhabenden Stadtteil von Hamburg. Obdachlosigkeit ist für die Jugendlichen im Alltag nur eine Randerscheinung.
Starkes Gefühl
„Am meisten Wärme hat es mir gegeben, wenn jemand kurz stehengeblieben ist, oder auch nur ein Lächeln, das macht total viel aus“, erzählt Helena von Wiedebach. 25 Minuten war die Schülerin mit einer Spezialbrille in der Virtual Reality unterwegs. „Man fühlt sich ja sonst überhaupt nicht mehr gesehen. Das Gefühl, aus der Gesellschaft ausgeschlossen zu sein, war ganz stark für mich.“
„UNHOME“ heißt das Virtual-Reality-Programm, mit dem Obdachlosigkeit erfahrbar wird. Die Teilnehmenden setzen eine sogenannte VR-Brille auf und tauchen direkt in die Computerwelt ein. Mit zwei Controllern können die Hände im Spiel bewegt und Gegenstände gegriffen werden. Entwickelt wurde die Software im Auftrag des gemeinnützigen Projekts „GoBanyo“.
Chris Poehlmann ist Mitgründer von „GoBanyo“. „In der VR-Experience schaust du dir nicht jemanden an, der auf der Straße überleben muss, du bist diese Person“, erklärt er. „Du bist die Person, die die Wohnung verliert, du bist die Person, die auf der Straße landet. Du musst dich selbst mit den Herausforderungen auseinandersetzen, du musst selber nach Geld fragen, du musst selber schauen, wie du die Nacht verbringst und das öffnet andere Lernhorizonte. Weil ich das Wissen, das ich vermittelt bekomme, nicht einfach nur verstehe, sondern erfahre.“
„GoBanyo“ betreibt seit 2019 einen kostenlosen Duschbus für wohnungslose Menschen in Hamburg. Vor Kurzem wurde ein zweites Fahrzeug angeschafft. Denn die Möglichkeiten, sich zu waschen, sind für Obdachlose rar. Gleichzeitig wollen die Organisatoren helfen, dass Obdachlosigkeit in der Gesellschaft besser wahrgenommen wird. Dafür gibt es das spendenfinanzierte Bildungsprogramm für Schulen und Unternehmen.
Reaktionen positiv
Nicolas Staake ist Bildungskoordinator bei „GoBanyo“ und organisiert mit Helferinnen und Helfern die 90-minütigen Workshops. „Die Reaktionen sind durchweg positiv.“, berichtet er „Also, ich muss sagen, ich habe selten bis nie ein negatives Feedback zu UNHOME bekommen.“
Nach 25 Minuten Virtual Reality gibt es Gespräche und Diskussionen. „Die Erfahrung, die wir immer wieder machen, ist, dass verschiedene Szenen aus dieser Experience die Menschen ganz unterschiedlich berühren“, sagt Staake. „Es gibt ganz verschiedene Ansatzpunkte, wo Menschen sagen: Hey, das hat mich total mitgenommen. Oder: Das sorgt dafür, dass ich in Zukunft vielleicht mein Verhalten verändern möchte.“
Die Entwicklung von „UNHOME“ hat drei Jahre gedauert, seit Anfang 2025 wird die Virtual-Reality-Experience eingesetzt. Für die Umsetzung hat das beteiligte Softwareunternehmen kürzlich einen Preis gewonnen. Das Drehbuch basiert auf echten Erlebnissen obdachloser Menschen.
Schmale Wand
„Was wir eigentlich zeigen wollen ist, dass die Realität so wie wir sie kennen und die Realität obdachlos auf der Straße zu leben, dass da nur eine sehr, sehr schmale Wand zwischen ist. Es könnte jeden treffen“, betont Henning Westerwelle. Sein Unternehmen, Curious Company, hat „UNHOME“ produziert.
„Das sind alles Dinge, die unterschiedlichen Personen passiert sind und die wir versucht haben, zusammenzuführen“, sagt Westerwelle. „Am Ende gilt: Hör den Leuten zu, hör dir die Geschichten an und das haben wir gemacht.“
Am Gymnasium in Othmarschen geht der Workshop mit einer lebhaften Diskussion zu Ende. Die Jugendlichen nehmen dabei den Blickwinkel der Obdachlosen ein. Wie ist es, Weihnachten auf der Straße zu verbringen? Wie bekommen wohnungslose Personen Post? Viele der Schülerinnen und Schüler betonen, dass sie in Zukunft anders auf obdachlose Menschen reagieren werden. Denn jetzt haben sie einen kurzen Eindruck davon, was es bedeutet, auf der Straße zu leben.



