Lena hat keine Lust, Leidtragende des elterlichen Zwists zu werden. Sie und ihr großer Bruder Tino entwickeln sich mehr und mehr zu den Hauptfiguren der Geschichte, weil ihre Mutter geistig zunehmend abbaut: Annie hat offenkundig ein psychisches Problem. Anfangs, als sie mit den Kindern in der Abendsonne auf dem Dach sitzt und den Vögeln zuschaut, ist davon nichts zu spüren, aber bald zeigt sich, dass die alleinerziehende Frau mit den Herausforderungen des Alltags überfordert ist.
Im Grunde ist Teenager Tino (Leopold Pallua) der Kopf der Familie, auch wenn er zwischen durch andere Schwerpunkte setzt: Sein Teleskop ist keineswegs in den Himmel gerichtet, sondern auf das Haus gegenüber; dort wohnt Jasmin, sein "Objekt der Anziehung", wie Lena (Ariana Stöckle) alsbald fachkundig erkennt. Von seinem Erzeuger ist nie die Rede, von Lenas Vater dagegen schon: Richard (Hanno Koffler) hat mehrere Jahre aus beruflichen Gründen in London gelebt und ist kürzlich nach Wien zurückgekehrt. Zunächst möchte er bloß mehr Zeit mit seiner Tochter verbringen, aber angesichts von Annies Labilität soll sein befreundeter Anwalt (Marcel Mohab) dafür sorgen, dass Richard das alleinige Sorgerecht für Lena bekommt.
Was nun folgt, ist eine gerade auch von den jungen Mitwirkenden vorzüglich gespielte Tragikomödie, in der Tino um jeden Preis verhindern will, dass die Familie auseinander gerissen wird. Gleichzeitig hat es Henning klugerweise vermieden, Annies Krankheit zu verniedlichen. Wird sie von Panik befallen, lassen optische und akustische Verfremdungen nachvollziehen, dass diese Attacken eine erhebliche Gefahr auch für Leib und Leben darstellen. Der erste Schub, als sie vor dem leeren Kühlschrank in Katatonie erstarrt, wirkt noch vergleichsweise harmlos, doch als sie kurz drauf aus dem Bett aufstehen will, versinken ihre Füße in einer finsteren Brühe. Auf der Straße hat sie aus heiterem Himmel plötzlich Angst vor einem Fliegerangriff; später, beim Schwimmen in der Donau ertrinkt sie beinahe.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Dass "Tiefwassertaucher unterm Dach" – der Titel bezieht sich laut Henning auf das Tauchen im "Ozean zwischenmenschlicher Gefühle" – dennoch kein deprimierendes Drama ist, verdankt der gemeinsam von MDR und ORF in Auftrag gegebene Film neben dem ausgiebigen Sonnenschein vor allem den vielen kleinen Ereignissen am Rande, die mit der eigentlichen Geschichte oft nur wenig, aber dafür viel mit der Nachbarschaft zu tun haben. Ein Grantler zum Beispiel schimpft regelmäßig, wenn Tino wieder mal die Treppe ’runter rennt. Eines Tages zerrt er den Jungen in seine Wohnung. Dort zeigt er ihm nicht nur den völlig berechtigten Grund für seine Lärmbeschwerde, sondern entpuppt sich sogar als durchaus sympathisch.
Das gilt auch für Elke (Emma Filipović), ein auf den ersten Blick etwas düster wirkendes Mädchen, das wenig Lust hat, Fragen zu beantworten, doch zu einer zuverlässigen Mitstreiterin wird. Sogar Jasmin (Olivia Goschler) von gegenüber lässt sich einspannen. Den maßgeblichsten Anteil daran, dass sich schließlich alles zum Guten wendet, hat jedoch Saba (Safira Robens) aus der WG im selben Haus. Sie sorgt dafür, dass Hanno Koffler ein komödiantisches Kleinod gelingt, nachdem Lena ihren Vater mit Haschkeksen gefüttert hat: Die Szene, in der sich eine Frau vom Jugendamt davon überzeugen will, ob Richards Schilderungen der vermeintlich unhaltbaren Zustände der Wahrheit entsprechen, ist dank Koffler zunächst zum Schreien komisch; bis die Stimmung kippt.
Dieser Abwechslungsreichtum kennzeichnet auch die Filmografie Hennings. Neben einigen ausgezeichneten "Tatort"-Krimis für den ORF hat der Autor und Regisseur unter anderem "So weit kommt’s noch!" (2024, ZDF) gedreht. In der Tragikomödie entdeckt eine Frau in einem neuen Hemd einen Hilferuf aus Bangladesh, und auch in dem gleichfalls tragikomischen Drama "Alle Nadeln an der Tanne" (2020, ZDF) gerät ein familiäres Gefüge aus den Fugen. Dank "Tiefwassertaucher unterm Dach" erweist sich Henning nun zudem als ausgezeichneter Regisseur für jugendliche Mitwirkende; schon allein deren ausnahmslos formidable Leistungen sowie die nicht nur während der Panikattacken besondere Bildgestaltung (Josef Mittendorfer) sind das Einschalten wert.



