Berlin (epd). Rund um den 87. Jahrestag der NS-Pogromnacht vom 9. November 1938 mehren sich Warnungen vor dem zunehmenden Antisemitismus in der Gesellschaft. Altbundespräsident Joachim Gauck forderte im „Tagesspiegel“ (Samstag) mehr Beschäftigung mit importiertem Antisemitismus und Judenfeindlichkeit von der politisch linken Seite.
„Wir haben seit Jahrzehnten eingeübte Abwehrreflexe gegenüber Rechts - das ist gut“, sagte Gauck: „Was lange vernachlässigt wurde, ist die Beschäftigung mit Antisemitismus etwa aus dem arabischen Raum, wo es völlig normal sein kann, mit antisemitischen Vorstellungen aufzuwachsen.“ Manche hätten auch Probleme, über linken Antisemitismus in Deutschland zu sprechen. „Egal wo Antisemitismus und Menschenfeindlichkeit herrühren: Wir brauchen mehr Entschlossenheit beim Schutz der Menschenwürde“, sagte Gauck.
Aufruf zu mehr „Wachheit“
Angesichts der steigenden Zahl antisemitischer Vorfälle im Land forderte Gauck zudem mehr „Wachheit“. Das Grundgesetz verbiete „weder Dummheit noch Niedertracht“.
Bundestagspräsidentin Julia Klöckner (CDU) sagte im „Tagesspiegel“ (Sonntag): „Wir sind das Land des ,Nie wieder’. Wer nach Deutschland kommt, muss diese Haltung akzeptieren und sich daran halten.“ Es dürfe hier „keine Zurückhaltung, keinen kulturellen Rabatt und erst recht keine Relativierung oder gar Verständnis“ geben.
Unheilvolle Allianz
Der Präsident des Zentralrats der Juden, Josef Schuster, warnte in der Zeitung vor einer „unheilvollen Allianz“ zwischen islamistisch motiviertem und linkem Antisemitismus, der sich „ins Gewand des sogenannten Antizionismus“ kleide. Dies sei eine neue und akute Bedrohung für jüdisches Leben in Deutschland, sagte Schuster. Die Gesellschaft könne ihr nur dann wirksam begegnen, wenn sie ihren Blick über die Gefahren des rechten Antisemitismus hinaus weite.
Der israelische Botschafter Ron Prosor bezeichnete in den Zeitungen der Funke-Mediengruppe (Sonntag) den linken Antisemitismus als den gefährlichsten, weil er seine Absichten verschleiere. Dieser bewege sich „immer an der Grenze zwischen Meinungsfreiheit und Aufhetzungsfreiheit“. In Europa sehe man das an Hochschulen und Theatern: „Man gibt sich gebildet, moralisch und politisch korrekt. Aber die rote Linie dessen, was von der Meinungsfreiheit gedeckt ist, ist längst überschritten.“
Antisemitismus nicht anderen zuschieben
Der Vorsitzende der Linken, Jan van Aken, kritisierte den Altbundespräsidenten für seine Äußerungen. Antisemitismus sei in Deutschland vor allem ein Phänomen der Mehrheitsgesellschaft, die auch in einer jahrhundertealten Tradition stehe, sagte der Linken-Politiker: „Insofern steht es allen, sowohl uns als auch ehemaligen Bundespräsidenten, gut zu Gesicht, den Antisemitismus nicht anderen zuzuschieben, sondern im eigenen Umfeld und im eigenen Dorf kritisch und wachsam zu sein.“




