Eine internationale Studie der Universität Hamburg und der Wirtschaftsuniversität Wien über die Folgen der Widerspruchslösung in der Organspende zeigt "unerwartete Nebenwirkungen".
In Ländern, die die sogenannte "Opt-out"-Lösung eingeführt haben, stieg die Zahl der Organspenden Verstorbener nur leicht, gleichzeitig gingen die Lebendspenden deutlich zurück. "Die Widerspruchsregelung sorgt nicht automatisch für mehr verfügbare Organe", sagt Michel Clement (54), Professor für Marketing und Medien an der Universität Hamburg. Die Studie wurde im Fachmagazin "PNAS Nexus" veröffentlicht.
Das Ergebnis habe ihn selbst überrascht: "Ich war der Meinung, dass eine Widerspruchslösung mehr Organe zur Folge haben würde", sagt Clement. In Deutschland gilt eine Zustimmungslösung, bei der nur als Spender infrage kommt, der zu Lebzeiten einer Organentnahme ausdrücklich zugestimmt hat. Bei der Widerspruchslösung ist es umgekehrt.
8.100 kranke Menschen auf Warteliste
Laut Deutscher Stiftung Organtransplantation (DSO) spendeten im vergangenen Jahr 953 Menschen nach ihrem Tod Organe, insgesamt wurden inklusive Lebendspenden 2.854 Spenderorgane entnommen. 8.100 kranke Menschen stehen auf der Warteliste, die meisten bräuchten eine Niere. Pro Jahr würden Hunderte sterben, weil sich kein passendes Transplantat findet.
In 24 Ländern, die zwischen 2000 und 2023 die Widerspruchslösung einführten, hat sich die Zahl der postmortalen Spender im Schnitt um 1,21 pro Million Einwohner erhöht, so die Studie. Das entspreche einem durchschnittlichen Plus von sieben Prozent. Es gebe zwar potenziell mehr Organe, diese könnten aber nicht immer für Spenden verwendet werden. Gleichzeitig sank die Zahl der Lebendspenden um 4,59 pro Million Einwohner, im Schnitt verringerte sich ihre Zahl um bis zu 29 Prozent.
"Illusion der Versorgungssicherheit"
Die Forschenden erklären diesen Verdrängungseffekt mit einem psychologischen Mechanismus: "Menschen in Ländern, die eine Widerspruchslösung eingeführt haben, nehmen häufiger an, dass der Bedarf an Organspenden ausreichend gedeckt ist", sagt Clement, der dazu experimentelle Studien mit mehr als 5.000 Teilnehmenden in Deutschland und Österreich leitete. Es komme "zu einer Art Illusion der Versorgungssicherheit". Dieser Nebeneffekt sei bisher kaum beachtet worden.
In Österreich gelte bereits die "Opt-out"-Regelung. "Die Menschen sind weniger bereit, sich als Lebendspenderin oder -spender zur Verfügung zu stellen." Das gelte zwar nicht für Spenden an engste Familienangehörige, aber für Spenden an den entfernteren Familienkreis, Bekannte oder Fremde. In Deutschland machten Lebendspenden 2024 laut der DSO 18,6 Prozent aller Transplantationen aus. Insbesondere Nieren und Teile der Leber würden von lebenden Spenderinnen und Spendern übertragen.
Bessere Aufklärung erforderlich
Das Forscherteam rät, bei der Diskussion um eine Einführung der Widerspruchslösung die möglichen Verdrängungseffekte zu berücksichtigen. "Eine Widerspruchsregelung sollte Teil einer Gesamtstrategie sein, die vor allem auf Aufklärung, Diskussionen und eine gesamtgesellschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema setzt", sagt Clement.
"Wenn mehr Organspenden das gesellschaftliche Ziel sind, dann sollte man neben den post-mortalen Spenden auch die Lebendspenden im Blick haben. Zudem müssen Impulse geschaffen werden, damit sich eine Person im Laufe des Lebens mehrfach die Frage stellt, sich für oder gegen eine Organspende zu entscheiden", sagt Clement.
Die Deutsche Transplantationsgesellschaft (DTG) fordert weiterhin die Einführung der Widerspruchsregelung. "Sie ist und bleibt ein sehr wichtiges Instrument, um dem großen Organmangel entgegenzuwirken, löst jedoch nicht alle Probleme", sagte Generalsekretär Lars Pape dem Evangelischen Pressedienst (epd). In Deutschland gebe es bislang keine Lebendspenden außerhalb des Familien- und Freundeskreises. "Daher würden die in der Studie beschriebenen negativen Effekte in Bezug auf nicht-gerichtete Lebendspenden (an einen anonymen Empfänger) bei uns aktuell nicht auftreten."



