"Kinder brauchen in Krisen Leuchttürme"

Eltern mit Kind auf einer Bank sitzend
Getty Images/iStockphoto/Ralf Geithe
Trauer und Krisen betreffen nicht nur Erwachsene, sondern auch Kinder: In Kindergärten ist daher die Präsenz von Traumaexperten sehr wichtig.
Traumaexperte für Kinder:
"Kinder brauchen in Krisen Leuchttürme"
Mit dem Stichwort Krisenintervention verbinden die meisten Menschen Blaulicht, große Unfälle und die Überbringung von Todesnachrichten an Angehörige. An Kindergärten denkt man dabei selten. Doch auch dort spiegeln sich die kleinen und großen Krisen des Lebens. Was dabei für die Teams wichtig ist, erklärt Simon Finkeldei in einem Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst.

Der Psychologe Simon Finkeldei leitet das psychotherapeutische Angebot der Aetas Kinderstiftung. Im Jahr versorgt die Stiftung kostenfrei rund 500 "Systeme" im Ausnahmezustand - von der Familie über die Kita bis zum Teenager mit der besten Freundin. Was dabei für die Teams wichtig ist, erklärt Simon Finkeldei in einem Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst.

epd: Herr Finkeldei, der erste Münchner Fachtag von Dekanat, Erzdiözese, Landeshauptstadt und Aetas Kinderstiftung zum Thema "Krisenintervention in Kitas" Mitte Oktober war mit gut 130 Erzieherinnen ausgebucht, das Interesse an dem Thema scheint hoch. Um welche Krisen geht es, und warum ist das schon in der Kita ein Thema?

Simon Finkeldei: Grundsätzlich kann unser Kopf selbst hochbelastende Ereignisse gut verarbeiten. Aber manchmal erleben wir Dinge mit solch außergewöhnlicher Wucht, dass wir Begleitung brauchen, um nicht krank zu werden. Das betrifft Kinder genauso. Dabei geht es nicht nur um Todesfälle in der Familie, sondern auch um scheinbar kleinere Ereignisse, die für Kinder aber einen großen Schrecken erzeugen. Sie sind dann darauf angewiesen, dass wir Großen für sie "Leuchttürme" bleiben, an denen sie sich orientieren können - auch in der Kita, wo sie oft einen Großteil des Tages verbringen.

Was müssen Erzieherinnen über Krisenbewältigung wissen?

Finkeldei: Ein paar wichtige Eigenschaften bringen sie ja meistens schon mit: ein weiches Herz für Kinder sowie Mitgefühl und oft Lebenserfahrung. Allerdings machen wir Erwachsenen alle oft am gleichen Punkt intuitiv einen Fehler in der Krisenbegleitung von Kindern: Wir versuchen, bereits geschehenes Leid von ihnen fernzuhalten und sie zu beschützen, damit sie keinen Schaden nehmen. Aber das funktioniert meist nicht, denn Kinder bekommen mehr mit, als wir denken.

Ein offener Umgang mit Krisen ist also wichtig?

Finkeldei: Es ist jedenfalls nicht der günstigste Weg, schlimme Nachrichten von Kindern fernzuhalten, denn wir nehmen ihnen damit die Möglichkeit dosiert und in Begleitung zu lernen, mit Schmerz oder Verlust umzugehen. Trotzdem gibt es eben verschiedene Wege: Manche Eltern sprechen beispielsweise über eine Krebserkrankung früh und offen mit den Kindern und ihrem Umfeld, andere halten es privat bis zum Schluss.

Simon Finkeldei ist psychotherapeutischer Leiter der Aetas Kinderstiftung, die Kinder und Jugendliche nach traumatischen Erlebnissen begleitet.

Dann fallen auch die Erzieherinnen aus allen Wolken: Eine Mutter ist gestorben, das Kind kommt ein paar Tage nicht in die Kita, alle sind betroffen oder geschockt. Was machen wir jetzt mit dem freien Platz im Morgenkreis? Können wir eine Kerze für die Familie anzünden? Wie begrüßen wir das Kind, wenn es zum ersten Mal wieder kommt?

Worauf kommt es an, wenn das Team von der Krise einer Familie erfährt? Meist gibt es ja neben dem betroffenen Kind noch ein Dutzend andere, und die Personaldecke ist oft dünn…

Finkeldei: Es gibt unzählige unterschiedliche Krisen-Szenarien, dennoch kann man allgemein sagen: Man muss nicht alles im ersten Moment klären. Manchen Bedarf kann man später stillen. Oft macht es schon einen großen Unterschied, mit dem Kind in Verbindung zu gehen, es kurz in den Arm zu nehmen oder ihm zuzunicken. Kinder stützen sich auch gegenseitig, da reicht es manchmal, den Prozess in der Gruppe zu begleiten und darauf zu achten, dass das betroffene Kind auch Pausen hat. Wichtig ist, als Bezugsperson gut auf sich selbst zu achten und nicht selbst hilflos zu werden. Denn dann ist es oft schwer, für Kinder Orientierung und Sicherheit auszustrahlen.

"Wenn ein potenziell traumatisches Ereignis Teams an ihre Grenzen bringt, können sie sich die Hilfe externer Unterstützung ins Haus holen"

Aber wie bleibt man stabil, wenn man selbst erschüttert ist?

Finkeldei: Wenn ein potenziell traumatisches Ereignis Teams an ihre Grenzen bringt, können sie sich die Hilfe externer Unterstützung ins Haus holen - dafür ist ein Notfallordner mit den wichtigsten Telefonnummern und ersten Schritten nützlich. Wir schauen dann: Wer braucht was? Was brauchen die Leuchttürme im Team, um wieder stabiler zu werden? Wie kriegen wir diesen Tag strukturiert? Das ist das große Plus von Kitas: Sie sind super in Tagesstruktur! Das gibt den Kindern Halt und Sicherheit.

In den nächsten Tagen kann man dann über das weitere Vorgehen nachdenken: Müssen die anderen Kinder-Gruppen in der Einrichtung Bescheid wissen, weil sie die Familie auch kennen? Braucht es einen Brief an die Elternschaft, weil es einen Großeinsatz von Polizei und Rettungskräften im Viertel gab? Oder einen Infoabend, wenn zum Beispiel eine Erzieherin verunglückt ist? Am Ende ist das von Fall zu Fall und von Einrichtung zu Einrichtung unterschiedlich.

Tod, Scheidung, Unfälle: Lebenskrisen gab es auch für Kinder immer schon. Warum gibt es jetzt mehr Aufmerksamkeit für das Thema?

Finkeldei: Die Wahrnehmung, dass Kinder keine kleinen Erwachsenen sind, ist gestiegen. Zudem haben medienwirksame Ereignisse wie das Messer-Attentat von Aschaffenburg, der Anschlag auf den Verdi-Demonstrationszug in München oder die Beinahe-Panik auf dem überfüllten Oktoberfest, bei denen jeweils auch Kinder involviert waren, die Sensibilität für das Thema zusätzlich erhöht.

Auch Kitas sind mit der Frage konfrontiert, wie sie in solchen Fällen gut reagieren und ihr System - Kinder, Eltern, das Team - gut durch die Situation begleiten. Wir stellen immer wieder fest, wie wichtig es ist, mit der psychosozialen Versorgung nicht zu lange zu warten, damit sich Störungen erst gar nicht manifestieren und früh das Erleben von Sicherheit und Orientierung zurückkehrt. Wenn Kita-Teams lernen, mit Krisen gut umzugehen, ist das eine direkte Hilfe für die Kinder. Denn sie brauchen gerade in schwerer See Leuchttürme, die den Weg weisen.