Es ist weder Buchclub noch Lesezirkel und auch kein Literaturseminar. Beim "Shared Reading" treffen sich fremde Menschen zum gemeinschaftlichen Lesen bei einer Tasse Tee oder einem kühlen Getränk. Zum Beispiel im Ökumenischen Bildungszentrum "sanctclara" in Mannheim. Angeleitet von Leseleiterin Julia Szostek aus Ludwigshafen treffen sich zehn Neugierige, um eine Geschichte und ein Gedicht laut zu lesen und die Worte auf sich wirken zu lassen. Die meisten sind zum ersten Mal dabei.
Szostek ist begeisterte Leserin und seit 2021 ausgebildete Leseleiterin. "Ich finde es toll, mit anderen Menschen über Literatur ins Gespräch zu kommen", sagt sie über ihr Ehrenamt. Es sei immer wieder spannend zu hören, welche Gedanken andere Menschen zu einem Text haben, "auf die ich selbst gar nicht gekommen wäre". An diesem Abend hat sie die Kurzgeschichte "Elins Äpfel" von Peter Stamm mitgebracht, die in Abschnitten laut und langsam vorgelesen wird. Nach jedem Abschnitt wird über das Gelesene munter diskutiert. Meinungen und eigene Erfahrungen werden ausgetauscht.
Dabei gibt es keinen Druck, niemand muss vorlesen oder etwas sagen. Szostek zitiert das Motto von Shared Reading: "Wer zuhört, gehört bereits dazu." Und eine Sache ist ihr ganz wichtig: Anders als in literaturwissenschaftlichen Seminaren gebe es hier auch kein Richtig oder Falsch. Das kommt bei Ursula Dachtler gut an, die sich schon in ihrer Schulzeit darüber aufregte, dass bei der Interpretation von Literatur eine bestimmte Richtung vorgegeben wurde. "Das habe ich im Deutsch-Leistungskurs im Gymnasium gehasst", sagte die Verwaltungsangestellte des Bildungszentrums, die an diesem Abend alkoholfreie Cocktails mixt.
Emotionalität zuzulassen statt Texte analysieren
Beim "Shared Reading" gehe es darum, die Emotionalität zuzulassen und nicht darum, die Texte zu analysieren, erklärt Leseleiter Tom Young-Wolf aus Heidelberg. Das habe etwas sehr Entspannendes und Heilsames. Der britische Literaturwissenschaftler hat die Idee 2014 in Liverpool kennengelernt. Von dort stammt das von der Literaturwissenschaftlerin Jane Davis in den 1990er Jahren entwickelte Konzept. Heute hat es sich in 18 Ländern auf 4 Kontinenten verbreitet, auch in den USA und Neuseeland. Sechs Jahre lang arbeitete Young-Wolf in Liverpool bei der britischen Dachorganisation "The Reader". Er leitete Gruppen, die es dort auch in Krankenhäusern und Gefängnissen gibt. Darüber hinaus bildete er ehrenamtliche Gruppenleiterinnen und -leiter aus, nicht nur in Großbritannien, sondern auch in Deutschland.
Durch "Shared Reading" habe er wieder gespürt, was ihn ursprünglich an Literatur begeisterte, sagt Young-Wolf, der jetzt als Englischlehrer in Heidelberg arbeitet. Im Kulturzentrum Karlstorbahnhof leitet er ehrenamtlich "Shared Reading"-Abende bei einer Tasse Tee auf Englisch. In Deutschland ist "Shared Reading" seit 2016 als gemeinnützige GmbH mit Sitz in Berlin organisiert. Geschäftsführer Carsten Sommerfeldt beschreibt die Wirkung für die Teilnehmenden so: "Sie fühlen sich respektvoll behandelt, sie denken positiver, sind ausgeglichener, entschleunigt." Zudem werde ihr Selbstvertrauen gestärkt.
Das Angebot will zur Begegnung im öffentlichen Raum, in Bibliotheken, Gemeinde- oder Jugendzentren und kirchlichen Einrichtungen beitragen. Ziel sei mehr Offenheit, Austausch und Begegnung. Ein Anliegen, das auch die Co-Leiterin des Ökumenischen Bildungszentrums, Cornelia Weber, unterstützt. Es sei eine tolle Idee, um Menschen miteinander ins Gespräch zu bringen. Deshalb will sie solche Veranstaltungen auch künftig anbieten.
Fast alle Teilnehmer in Mannheim gehen inspiriert und angeregt nach Hause. Auch die 84-jährige Ursula ist nach der 90-minütigen Veranstaltung begeistert: "Genauso etwas habe ich gesucht. Ich mag Veranstaltungen, bei denen man miteinander ins Gespräch kommt." Lydia und Klaus waren ebenfalls zum ersten Mal dabei. Während Lydia das gemeinsame Lesen sehr anregend fand, ist ihr Mann skeptisch. Er finde es nicht so glücklich, den Text in Etappen zu lesen und über den Fortgang zu spekulieren: "Das ist nicht so meine Art, ich will die Informationen lieber insgesamt haben und dann darüber reden."