UN-Experte: Müssen hungernde Mütter in Afghanistan abweisen

UN-Experte: Müssen hungernde Mütter in Afghanistan abweisen
06.09.2025
epd
epd-Gespräch: Natalia Matter

Frankfurt a.M., Kabul (epd). Die Not in Afghanistan ist nach Einschätzung des Welternährungsprogramms so groß wie nie. „Die Erdbeben verstärken eine massive humanitäre Katastrophe“, sagte der Landesdirektor der UN-Organisation, John Aylieff, dem Evangelischen Pressedienst (epd). Bereits zu Beginn des Jahres sei die Zahl der unterernährten Menschen so hoch gewesen wie noch nie in Afghanistan, vor allem unter Kindern und Frauen.

Viel mehr hungernde Frauen kämen mit ihren ausgemergelten Kindern zu den Lebensmittelausgaben und den Kliniken, manchmal nach vier, fünf Stunden Fußweg. „Und dann müssen wir sie abweisen, weil wir kein Geld haben, ihnen zu helfen“, beschrieb Aylieff. „Es sind die gleichen Frauen, denen die Welt nach der Machtübernahme der Taliban 2021 unerschütterliche Solidarität versprochen hat, die jetzt zusehen müssen, wie ihre Kinder in ihren Armen dahinsiechen.“

Nach zwei wegen guten Ernten etwas hoffnungsvolleren Jahren 2023 und 2024 habe sich die Wirtschaftslage unter anderem wegen der Folgen des Arbeitsverbots für Frauen Ende des Jahres merklich verschlechtert, erläuterte Aylieff. Zudem hätten die internationalen Geber ihre Hilfen deutlich gekürzt, was einen dramatischen Rückgang der Nahrungsmittelverteilungen zur Folge hatte. „Wir haben für dieses Jahr weniger als die Hälfte der Mittel von 2024 erhalten.“

Hinzu komme eine Dürre in 19 der 34 Provinzen und die Rückkehr von zwei Millionen Menschen, die aus Pakistan und dem Iran abgeschoben wurden, sagte Aylieff. Das sind dem Experten zufolge nicht nur zwei Millionen mehr, die Essen, Unterkunft und Arbeit brauchen. „Über eine Million von ihnen hat gearbeitet und Geld an die ärmsten Familien in Afghanistan geschickt, die jetzt kein Einkommen mehr haben.“ Insgesamt haben von rund 46 Millionen Afghaninnen und Afghanen fast zehn Millionen deutlich zu wenig zu essen, 4,6 Millionen Mütter und Kinder sind unterernährt.

„In der Erdbebenregion im Osten, in der die Menschen bereits davor zu den ärmsten des Landes gehörten, hat die Bevölkerung keine Ressourcen, um damit umzugehen.“ Nach mehreren Beben seit Sonntag mit laut offiziellen Angaben über 2.200 registrierten Toten herrsche völlige Verwüstung. Viele Dörfer sind laut Aylieff wegen fehlender Infrastruktur in der Bergregion auch vor den Erdbeben kaum zu erreichen gewesen. Das WFP arbeite mit Lastentieren wie Eseln, körperlich Unversehrte transportierten die Güter zu Fuß. „Den Betrieb unseres Helikopters, den wir immer in solchen Situationen eingesetzt haben, mussten wir wegen der Finanzkürzungen vor drei Monaten einstellen.“

Besonders kritisch sei die Lage, weil der Winter in der Region früh beginne. „Es schneit bereits im November, und dann sind viele Menschen von der Außenwelt abgeschnitten.“ Und das Winterprogramm des Welternährungsprogramms, mit dem mit 400 Millionen US-Dollar sechs Millionen Menschen unterstützt werden sollen, ist bisher nicht finanziert. „Zum ersten Mal seit Jahrzehnten werden in Afghanistan viele Menschen Hunger leiden und es wird keine nennenswerte Reaktion der internationalen Gemeinschaft geben“, sagte Aylieff. „Ich möchte nicht dramatisch klingen, aber in diesem Jahr werden vermutlich so viele Kinder in Afghanistan sterben wie noch nie.“