Herr Vogel, was halten Sie von einem Pflichtjahr bei gemeinnützigen Einrichtungen oder bei Bundeswehr und Blaulicht-Berufen, wie die Initiative es empfiehlt?
Berthold Vogel: Ich halte das für eine interessante und wichtige Überlegung. Wir sehen doch mit Sorge, dass sich immer mehr Menschen in den Filterblasen des Internets voneinander abkapseln oder sogar wechselseitig "anhassen". Wir beklagen, dass uns Orte der Begegnung abhandenkommen, monieren, dass nur noch von Identität und nicht mehr von Gesellschaft die Rede ist. Manche soziologischen Kollegen sprechen von einer "Singularisierung" der Gesellschaft. Das kann man zur Kenntnis nehmen und mit der Schulter zucken. Aber wir können auch aktiv werden.
Und da halte ich den Vorschlag eines verpflichtenden "Gesellschaftsjahres" in den genannten Bereichen für sehr gut. Eine solche Verpflichtung ermöglicht es, seine eigenen kleinen Kreise zu verlassen, neue Orte kennenzulernen, mit anderen Lebenswirklichkeiten konfrontiert zu werden. Ein Pflichtjahr hilft, Horizonte zu erweitern, weil es eben auch eine Zumutung ist. Doch ohne Zumutungen werden wir unsere demokratische und freie Gesellschaft nicht bewahren können.
Fördert ein solches Pflichtjahr den gesellschaftlichen Zusammenhalt und das demokratische Verständnis?
Vogel: Aus meiner Sicht: ja. Aber ein Pflichtjahr löst nicht alle Probleme und es müssen auch erst Strukturen geschaffen werden, die ein solches Pflichtjahr produktiv machen. Einfach nur zu sagen, der eine beringt Zugvögel, die andere sitzt im Rettungswagen oder geht zum Technischen Hilfswerk, reicht nicht. Ein Pflichtjahr wird nur dann Erfolg haben, wenn es in eine Infrastruktur des Gemeinsinns und funktionsfähiger öffentlicher Güter eingebunden wird. Doch diese Infrastruktur wurde über Jahrzehnte vernachlässigt.
"Freiwilligkeit ist selektiv, Pflicht ist universal."
Vor allem darf es nicht sein, dass in der sozialen oder kulturellen Daseinsvorsorge Stellen abgeschafft werden, weil man jetzt ja das Pflichtjahr hat - das wäre fatal. Allgemeine Erklärungen in Schloss Bellevue helfen nicht weiter. Die Kommunen müssen finanziell und in ihrer Handlungsfähigkeit gestärkt werden. Dann können sie Strategien dafür entwickeln, dass ein Pflichtjahr nicht nur für diejenigen einen Mehrwert bringt, die es ausführen, sondern auch für die lokale Gesellschaft. Nur so kann ein Pflichtjahr Zusammenhalt und Demokratie-Verständnis fördern. Von dieser konkreten Umsetzung ist aber bislang wenig zu lesen und zu hören.
Ist es denn aus Ihrer Sicht sinnvoll, zu einer Dienstpflicht überzugehen oder besser, die Freiwilligkeit beizubehalten?
Vogel: Freiwilligkeit ist selektiv, Pflicht ist universal. Freiwilligkeit hört sich schöner an, aber sie schafft oft Ungerechtigkeit oder auch das Empfinden, dass es nicht gerecht zugeht. Wenn wir uns darin einig sind, dass wir gesellschaftliche Chancen gerechter verteilen müssen, dann sollten wir uns auch darauf verständigen, dass wir gesellschaftliche Pflichten gerechter verteilen.
Wir leben in einer Zeit, in der Demokratien von innen und von außen unter Druck stehen. Nötig ist eine resiliente Gesellschaft, die Widerstandskräfte gegen eskalierende Ungleichheiten, massive Ungerechtigkeitserfahrungen und soziale Gleichgültigkeit entwickeln muss. Wir sind in der Pflicht, Orte zu schaffen, die die Demokratie stärken. Das Pflichtjahr, gut und attraktiv gestaltet, kann hier ein wichtiger Beitrag sein.